Japan2005
Samstag, Januar 22, 2005
  Erster Inlandflug .

Telegramm. Zurück in Tsukuba 23 Uhr Ortszeit. Heute früh von Toyama mit Zug nach Kanazawa, 2. schönster Garten Japans, Kenroku-En im Schnee (morgen mehr), u.a. erster Springbrunnen Japans, japanisches Mittagessen im Park im Knien bzw. Schneidersitz, danach Geishaquartier, der Professor kauft seiner Frau ein Geschenk aus Kanazawagold, mit Zug zurück nach Toyama, Gepäck im Hotel abgeholt, mit Bus zum Flughafen, Flug Toyama - Tokyo-Haneda, Landung auf neuem, erst vor zwei Wochen eröffneten Terminal für Domestic Flights, auf der Damentoilette kann das Frauengeplätscher mit dem Geplätscher eines Gebirgsbächleins durch Berührung einer elektronischen Lichtschranke übertönt werden, Transfer zur Tokyo-Station, Bus nach Tsukuba-Center - alles ausnahmslos japanisch, ohne Begleitung und ohne Betreuung überstanden. Traumhafter Anflug auf Tokyo, in der Nacht ist die Stadt bunt und groß wie keine andere der Welt, unter uns die Tokyo-Bucht, das Meer im Dunkel. Morgen mehr. Der Mond wird wieder voll, also ist unsere Zeit hier fast halb um. Gute Nacht!
 
Freitag, Januar 21, 2005
  Kuckucksrufe .

Toyama. Es schneite die ganze Nacht. Trotzdem sind am Morgen die Straßen der Stadt teerschwarz. Schweres Schneeräumgerät ist weder zu sehen noch zu hören. Die Straßen werden gewärmt und gereinigt vom Wasser aus den unterirdischen Heilquellen. An den Kreuzungen hängen elektronische Anzeigen, von denen wir ablesen können, wie viele Sekunden es dauert, bis die Ampel von Rot auf Grün wechselt. Für uns Fußgänger (nicht nur hier, sondern im ganzen Land) ertönt dazu Vogelgezwitscher. Je nach Himmelsrichtung. Als Erkennungszeichen für die Blinden. Amseln. Drosseln. Fink und Star. Wir wohnen im Eckzimmer im 13. Stock des Hotels Ana an der Otomachi-Allee. Sie kreuzt unter uns die Burgstraße. Wir schliefen ein mit dem Kuckucksruf und wachten mit ihm wieder auf. Und er begleitet mich den ganzen Tag.

Irritationen. Das Essen wird immer besser und exklusiver. In Niigata glaubten wir uns mit Tsuji-san bereits im kulinarischen Himmel. Assen an normalen Tischen Sashimi, Noppe Stew (Taro, eine Art Kartoffel, Lotuswurzeln, Bambusschösslinge, Ginkonüsse und Lachs in Soyasauce), Nanban Shrimps (süsse Shrimps), Koshihikari-Reis und tranken verschiedene Sakesorten aus Eschigo-Reis, u.a. Acht-Berge-Sake. Mittlerweile kann ich mir die Namen der Speisen nicht mehr merken. Weil der Service immer erniedrigender wird. 18 erlesene Delikatessen von einer Frau auf Knien gereicht zu bekommen, fördert weder meine Verdauung noch die Laune. Anders bei den Männern, die sich mit geröteten Köpfen immer lauter unterhalten. Ich könnte genausogut nicht anwesend sein. Höhepunkt des gestrigen Abends: die Chefin des Etablissements, die kam, sich verbeugte und auf den Knien Bier einschenkte. Mit einem eingefrorenen Lächeln auf den eingespielten Lippen. Auf den Knien wegrutschte. Auf den Knien sich verbeugte. Nochmals. Zum Abschied. Und auf den Knien verschwand. Im teuren Kimono. Aus raschelnder Seide. Der Professor war begeistert. Allein dafür müsste man bestimmt zehntausend Yen hinblättern. Im Restaurant der fünfzigtausend Steine. Wobei Steine in diesem Fall eine Reismaßeinheit bedeuteten. Erklärte der gelehrte Sinologe und mich packte die zweite Wut. Ich bin verstimmt bis weit in den heutigen Tag hinein. Schicke die Putzfrauen dreimal weg.

Der Besuch im Suiboko-Museum ändert nichts. Auch nicht die Geschenke des Direktors an meinen Mann (Kataloge, Postkarten). Und erst recht nicht der erste richtig giftiggrüne, bittere, schaumige Tee im kalten Teehaus. Es schneit unverrichteter Dinge weiter.

Ich bin vollkommen überflüssig in diesem Land der Kuckucksrufe. In einem Land, in dem Uriniergeräusche von Frauen nicht gehört werden dürfen, weshalb die Toilette in unserem privaten Hotelzimmer automatisch das Spülen einleitet, wenn mein Hintern die angewärmte Klobrille berührt, nicht aber wenn der Tourismusexperte im Stehen pinkelt. In einem Land, in dem die Mädchen im tiefsten Winter mit Miniröcken und Knöchelsöckchen zur Schule gehen müssen. In einem Land, in dem verheiratete Frauen nicht arbeiten sollen, und wenn sie es doch tun, keine Visitenkarten besitzen, sprich keine Stellung einnehmen. In einem Land, in dem es keine gummierten Briefumschläge gibt, geschweige denn selbstklebende. In einem Land, in dem Frauen blutleer menstruieren, denn ich habe noch auf keiner öffentlichen Damentoilette andersartige Spuren vorgefunden. In einem Land, in dem die Alpen am Meer liegen und Frauen individualistisch ausgeprägte Vorlieben haben. Erwiesermaßen anders als die Männer in Schlips und Turnschuhen. In Tokyo gibt es Freudenhäuser, in denen Männer arbeiten und Frauen bezahlen. Fotos von den begehrtesten männlichen Prostituierten prangen überdimensioniert an der Fassade und werden, je nach Geschäftsgang, tagesaktuell ausgewechselt. Im Vergleich dazu fallen die Schulmädchengesichter auf der anderen Seite der Straße blass und farblos aus. Kucku. Kucku. Kuckucksrufe.

 
Donnerstag, Januar 20, 2005
  Snowscape .

Telegramm Toyama, Ana Hotel, Zimmer 1320: Niigata ab 7.54 Uhr. Mit Zug nach Toyama. Tsuji-san verabschiedet uns am Bahnhof, erinnert nochmals daran, dass Japan ein kleines Land mit großen Unterschieden sei. Wir fahren nach einem kurzen Schlenker durch das verschneite Hinterland die Küste entlang nach Süden. Das Japanische Meer ist erbost. Wirft wilde Wellen. Frühstück im Zug. Kalter Reis. Heißer Grüntee. Heißer Schwarzer Kaffee. Zwei Lektionen Katakana. The Japan Times (u.a. Bericht über Mr Weldon’s safely comeback from Pyongyang – den Mann hatten wir doch selbst vor zwei Tagen in Tokyo live erlebt. Die Medien arbeiten langsam in diesem Land). Regen und Schnee unterwegs. Ankunft Toyama 10.50 Uhr. Aoki-san erleichtert am Bahnhof, er hat uns wieder eingeholt. 2 Herren der Präfekturverwaltung erwarten uns, mit Fahrer und Auto. Als erstes Spaziergang im Regen im Canalpark, der auf dem zugeschütteten alten Flussbett des Jinsu-Flusses im Entstehen begriffen ist. Japanisches Mittagessen (Schuhe aus, Bodenheizung an, Hände und Füße trocken) im 14. Stock des Urban-Center. Dr. Hanyu, Shintopriester in der 23. Generation, Erfinder von Snowscape (Pendant zu Landscape), Doktor der Tokyo-Universität, Vizegeneraldirektor von Public Works Toyama-Präfektur erklärt uns den Unterschied von aktiver und passiver Nutzung des Schnees. Zeigt uns Fotos von seinem Schneegarten. Unterscheidet Schneekunst- von Schneehandwerk. Auch davon haben die Schweizer noch nie etwas gehört. Anschließend Rundfahrt durch die Häfen der Stadt (Shinminato, Toyama und Fushiki). Berge von Holzschnitzeln, angeblich ganze in Chile abgeholzte Wälder. Riesige Autoverladelager. Alle ausrangierten weißen Pkws der Japaner landen in Toyama, wo die Russen sie begaffen, aufkaufen, auf ihre Kähne verladen und abtransportieren. Was die Russen nicht mitnehmen, wird verschrottet und nach Korea exportiert. So bleibt das Land sauber. Die Autos neu. Und die Straßen voll. 15 Uhr Gespräch mit Tourismusverwaltung. Ein Großraumbüro der kleineren Art. Übersetzer Adam aus Amerika (mit norwegischen und deutschen Vorfahren). Video vom Tateyama (3000 m, so hoch wie der Titlis) und Tateyama Kurobe, mit dem höchsten Gipfel Onanjii (3014 m). Uns wird sauberes Bergwandern vorgeführt. Der Bau von hochalpinen Toiletten. Und der Weg der Wiederaufbereitung des Spülwassers. Angeblich sind an der Küste im Frühjahr Fatamorganas zu sichten wie sonst nur in der Sahara. Ein heiliges Land, das noch niemand entdeckt hat.

Abendessen im Restaurant „Fünfzigtausend Steine“ mit dem sanften Shintopriester, dessen Tochter mit einem Tessiner verheiratet ist. Danach will er uns die Schneekunstwerke im Park vor der Präfekturverwaltung zeigen, bedauert während 18 erlesenen Delikatessen, dass kein Schnee da ist. Ohne Schnee kein Werk. Wir löffeln die letzte Suppe aus und warten auf den Nachtisch. Ein Blitz durchschlägt die Nacht, der Donner folgt sogleich. Und schwerer Schnee fällt vom Himmel über der Stadt, die am Meer liegt und in den Japanischen Alpen. Hier ist alles anders. Der Schnee in Toyama, erklärt Dr. H’s Mitarbeiter, ist nass. Auf Hokkaido staubig. Wir waten durch tiefes Weiß in den Park. Mitten in der Nacht. Weichen den Straßenduschen aus. Die Straßen werden bei Schneefall automatisch von heißen unterirdischen Quellen entschneit. Bei Kälteeinbruch enteist. Es dampft und plätschert rundherum. Schneebäume. Schneespuren. Schneemenschen. Aoki-san blitzt den Boden ab. Unsere Schuhabdrücke. Wir erreichen schließlich mit nassen Füßen unseren 13. Stock. Vor dem Fenster dicke Schneeflocken. Winter in Toyama. Endlich. Snowscape.


 
Mittwoch, Januar 19, 2005
  Das erste Erdbeben .

Tsuji-san berichtete heute morgen, dass gestern Abend um 21.50 Uhr die Erde in Niigata bebte. Leicht zwar. Aber spürbar in den Häusern. Nicht auf der Strasse. Das verstehe ich nicht. Wir waren in unserem Zimmer im 26. Stock. Der Professor starrte gerade auf die Nachtstadt hinunter und schlürfte Sake. Ich kämpfte mit einer Tastatur, die immer wieder auf Japanische Silben umsprang. Ich wusste nicht, warum. Weil meine Finger zu behende über die Tasten fuhren und der Kopf hinkte. Mit denken. Mit gucken. Mit erinnern. Dabei war ich so erleichtert gewesen, meinen eigenen Laptop nicht mitgenommen zu haben, denn im Hotelzimmer steht ein Flachbildschirm, Hitachi, das neueste vom Neuen, der sowohl BBC WORLD hergibt wie auch Bloggertexte frisst. Natürlich nicht gleichzeitig, was zugegebenermaßen zu einer gewissen Spannung in Zimmer 2609 zwischen 21.30 und 22.30 Uhr führte. Weshalb wir wahrscheinlich nicht bereit waren, den Konvulsionen von Mutter Erde zu folgen.

Niigata - eine seltsam seelenlose Stadt. Wir wohnen im höchsten Gebäude. Und es gibt nichts anzuschauen. Früher soll es viele kleine Kanäle gegeben haben. Ansammlungen von Wasser. Binnenseen. Transportwege. Im Winter Schlittschuhparadiese für Kinder. Die Berge im Rücken. Das Meer vor den geröteten Wangen. Das Japanische Meer heißt vom anderen Ende her, von Rajin-Sonbong aus, in der koreanischen Sprachregelung Ostmeer. Eine Bezeichnung, welche die Japaner natürlich nicht akzeptieren können, denn von Osten schwappt an ihre Insel der Pazifik. Am Strand mitten in der Stadt sind mächtige Wellenbrecher aufgetürmt. Das Wasser verhielt sich beim morgendlichen Spaziergang harmlos. Einige Fischer kratzten Seegras von den Betonteilen, welche die Ebbe gerade freigegeben hatte. Ein Stahlungetüm hievte weitere Steinbrocken von einer Stelle an die andere.

Gestern im Shinkansen die seltsame Einsicht, wie schnell wir uns an kalten Reis und kalten Fisch gewöhnt haben. Ich stehe immer noch wie ein paar Schritte neben mir. Ein Schatten meiner selbst. Und beobachte das seltsame Tun. Mit offenem Mund. Tsuji-san schlug vor, aus Zeitgründen an der Tokyo-Station ein "Lunchpaket" zu kaufen und im Zug zu essen. In Niigata, versprach sie, gäbe es bessere japanische Küche als in Tokyo. Alle Japaner, ausnahmslos alle, die aus dem Shinkansen, der den lieben langen Tag von Niigata nach Tokyo und von Tokyo nach Niigata braust, ausstiegen, trugen ihre leergegessenen Lunchpaketboxen sowie die leergetrunkenen Wasserflaschen, Bierdosen, Sakekännchen in der Plastiktüte mit, in welcher sie ihr Mittagessen, die vollen Kartons und PET-Flaschen an einer im Nordwesten gelegenen Station gekauft hatten. Sie warfen die Tüte in die dafür vorgesehene Mini-Mülltrennanlage auf dem Tokyoter Bahnsteig. Von der Belegschaft eines Waggons quoll die Tonne gleich über. Fröhliche Mädels in weißen Handschuhen erschienen auf der Stelle. Die einen verschwanden mit den vollen Müllsäcken, die anderen blieben am Ort und spannten neues Plastik auf. Jeder trägt hier seinen Dreck so lange mit sich herum, bis er eine Gelegenheit findet, ihn ordnungsgemäß abzusetzen. Wenn das die Schweizer wüssten! Im 100-Yen-Shop gibt es "portable ashtrays" zu kaufen. Mittragbare Aschenbecher. Der Shinkansen aus Niigata wurde in Tokyo geputzt, bevor die Reisende Richtung Niigata einsteigen durften. Man wartete klaglos. Nachdem die Putzkolonne den Zug verlassen hatte, drehten sich die Sitze automatisch auf der Stelle. Keiner muss hier rückwärts sitzend Zug fahren!

Wir aßen im Shinkansen kalten Reis und kalten Fisch mit Stäbchen, während Fuji draußen allmählich aus unserem Gesichtsfeld verschwand. Ich trank aus einer Plastikflasche heißen Grüntee. Und die nächsten Vulkane traten heran. Getränke aller Art, von süßer Limonade über Kaffee bis Sake, sind in kalter oder heißer Form erhältlich. Überall. An allen Straßenecken. An allen Fressbuden. In den Sakeläden. In den U-Bahnschächten. An den Bahnhöfen. Aus "Vending machines". Die übers Land verteilt in regelmäßigen Abständen auftauchen. Verordnet. Bis hinein in die Hoteletagen. Und unser Ninomiya-House. Nur das Essen ist vorzugsweise immer nur kalt. Im Nobel-Restaurant wie aus der Lunchbox. Ich verspeiste zu meinem eigenen Entsetzen mit großem Appetit kalten Reis aus der Holzimitatschachtel. Packte dann Holz und Karton und Plastik in die durchsichtige Tüte zurück, verknotete deren Griffe, trug sie in Niigata aus dem Shinkansen und warf sie auf dem Bahnsteig in die für meinen Waggon vorgesehene Mini-Mülltrennanlage.

Der Himmel zieht sich zu. Für den Nachmittag ist Regen und Schnee angesagt. Von Winter keine Spur. Der Wind war am Morgen schläfrig, die Luft lau, die Sonne blass. Das Hotelzimmer war bei unserer Ankunft auf 24 Grad vorgeheizt. Als wir die Raumtemperatur elektronisch auf 20 Grad einstellten, stellte die Air-condition auf kalte Luftzufuhr um. Am leichtesten bekleidetet sind in Japan die Kinder. Erzählte beim Mittagessen der Russe Vladimir. Je kleiner der Mensch, desto nackter. In Russland sei das umgekehrt. Überall ist das umgekehrt. Denke ich. Entsetzt wie mein eigener Schatten. Ausländer erkennt man daran, dass sie Strickjacken und Wollmützen tragen. Und kein Japanisch sprechen. Wie viele haben wir schon getroffen, vom Bielefelder DAF-Menschen angefangen bis zum Russen Vladimir, die seit Jahren in Japan arbeiten und auf die Frage, ob sie japanisch sprechen oder wenigstens lesen, entgeistert den Kopf schütteln.

Unweit des Hotels entdeckten wir gestern eine Kirche. Eine katholische Kirche, wie mir schien. Denn auf dem Dachfirst prangte ein römisches Kreuz. Nur der Springbrunnen vor dem Portal irritierte mich ein wenig. Japanischer Stil? Daneben ein langgestrecktes Gebäude, das in Italien ein Kloster wäre. Eine religiöse Einrichtung? Alles fake, zerstreute Tsuji-san unsere Bedenken. Ein Hochzeitspalast. In dem nicht einmal die offizielle Zeremonie stattfindet. Nur ein Tanzpalast. Ein riesiger Bankettsaal. Dem Heiligen Valentin geweiht. Den nicht einmal der Papst kennt. Eine angeblich christliche Mode. Zu heiraten. Im weißen Kleid. Unter silbernem Kreuz.

Das erste Erdbeben im Kopf. Kalter Reis. Heizkissen an den Fußsohlen. Blindtasten unter den Fingern. Verwirrte Buchstaben. Japanische Silbenschrift. Unentzifferbarer Bildschirm. Die seelenlose Stadt. Der Winter stammt aus Nachodka.


 
Dienstag, Januar 18, 2005
  Der zweite Blick auf das Japanische Meer .

Telegramm Niigata: 15 Uhr Ankunft Hotel Nikko. Vom Zimmer im 26. Stock des Bandaijima-Gebäudes, Teil der Toki-Messe, erstaunliche Aussicht auf eine Stadt, die in keinem Reisebericht vorkommt, auf ihren Fluss, den Shinano, auf das Japanische Meer und auf unglaublichen Wolken am Himmel. Vom Winter keine Spur. Der Schnee blieb in den Bergen liegen. Mit dem Shinkansen fuhren wir von Tokyo in nordwestlicher Richtung quer über die Insel. An den Rand der Kanto-Ebene. Wo uns aus der Ferne scheu der Vulkan Asamayama zuwinkte. Ohne erkennbare Rauchzeichen. Und der mächtige Haruna. Der Hochgeschwindigkeitszug zischte sie an und durchbohrte den Bergzug Echigo-sanmyaku. Hielt kurz in Echigo-Yuzawa. Holte Luft. Und Tsuji-san, des Professors Kollegin aus Niigata, Eisenbahnspezialistin, Erkunderin des koreanisch-chinesisch-russischen Grenzgebietes rund um den Tumen-Fluss, lachte: „Direct Subway from Tokyo!“

Wir waren um elf Uhr in Tokyo im ABC-Building, 10. Stockwerk, American Library Center verabredet. Bis dorthin begleiteten uns, wie immer, der Bus aus Tsukuba und mein Fujisan. In einem überheizten Raum hörten wir überspitzte Worte, den Rest der Rede von Mr. Weldon, dem stellvertretenden Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses des US-Kongresses, gerade zurück von einem Besuch in Pyongyang. Uff. Auf dem Hausdach gegenüber glaubte ich Scharfschützen zu erkennen. Es waren aber bloß dick vermummte Haushandwerker, die eine Feuertreppe an der Außenfassade montierten. Über den Wolkenkratzern kreiste ungeduldig ein Hubschrauber. Mag Zufall sein. Dachte ich und fragte meinen angetrauten Tourismusexperten: „Müssen wir uns das anhören?" Der nickte. Und mich packte die erste Wut. Tsuji-san hatte uns freundlicherweise in Niigata im Nikko-Hotel untergebracht, das die oberen Stockwerke des Bandaijima-Hauses einnimmt. Unten sind Großraumbüros verschiedener Couleurs untergebracht. Im 12. Stockwerk arbeitet Tsuji-san im Economic Research Institute for Northeast Asia (ERINA), wenn sie nicht gerade in Tokyo oder Korea oder Europa auf einer Konferenz die neuesten Studien zum Transportvolumen der transsibirischen Eisenbahn vorträgt.

Der Professor wird morgen rechtzeitig und zu Fuß zu seinem eigenen Vortrag im ERINA erscheinen. Mit dem Hotellift nach unten in die Lobby. Mit dem Institutslift den halben Weg wieder nach oben.

Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich das Japanische Meer vor einigen Jahren in Rajin-Sonbong/Nordkorea. Wir verbrachten damals eine Nacht im Hotel Emperor, was eine unglaubliche Geschichte unter einem unglaublichen Himmel voller unglaublicher Wolken für sich allein ist. Wir wollten das Meer sehen und gingen, wie wir das heute abend hier auch taten, unangemeldet aus dem Hotel. Wir hatten kaum zwei Schritte getan, als wir von besorgten Bodyguards umringt waren, die uns alles mögliche weismachen wollten, was uns passieren könnte. Auf dem kurzen Weg zum Meer. Wir setzten uns durch. Das Meer lag ruhig vor uns. Sie folgten uns unauffällig so unauffällig, wie es ihnen möglich war.

P.S. Tsuji-san äußerte sich auf dem Weg zum Abendessen (köstlich, in Niigata - dem Ort, der in keinem Reiseführer der Welt auftaucht, in keinem Guinessbuch der Rekorde, in keinem Gourmetheftchen - gibt es den besten Reis Japans, den besten Fisch Japans, den besten Sake Japans) wohlwollend über meine roten Lammfellschuhe. Echte Schweizer Winterstiefel. Erkläre ich. Und sie klärt mich auf. Über die sonderbaren Sandkörperteilheizkisschen, die Wärme entwickeln durch Hautreibung und einen Arbeitstag lang Hautteile mit giftigen Warmausdünstungsstoffen versorgen: in Japan gibt es Wärmeschuhsohlen. An die Fußsohlenhaut anzuklebende, an die Form der Quadrat- oder Plattfüsse angepasste, Sandheizkissen. Die Menschen tragen in den Schuhen Heizkissen. Deshalb bekommen sie keinen Schnupfen. In ihren Turnschuhen. Sandalen. Stöckelschuhen. Nicht einmal auf bloßen Füssen in den Tempeln. Oder durch den Schnee.


 
Montag, Januar 17, 2005
  Winter in Japan .

Morgen fahren wir nach Niigata. An die Westküste. Dort herrscht richtiger Winter. Morgen sind es drei Wochen, seit wir angekommen sind. Schon so lange denke ich über den Winter in Japan nach. Und komme auf keinen grünen Zweig. Die Bauern in der Kanto-Ebene, sagt Aoki-san, sind reich, weil sie auch im Winter pflanzen und ernten. Die Bauern an der Westküste sind arm, weil auf deren Felder monatelang eine dicke Schnee- und Eisdecke liegt. Zwei Tage Niigata (der Professor hält seinen Vortrag), zwei Tage Toyama (Gespräche und sightseeing, u.a. Besichtigung der Winterbeach), ein Tag Kanazawa (Privatausflug, zweitschönster Garten Japans). Flug nach Tokyo. Bus nach Tsukuba. Samstagnacht schlafen wir wieder hier.

Winter in Japan. Ich habe reife Orangen an Bäumen hängen sehen. Aoki-san spricht von der Hochzeit der Erdbeerernte. Die Schulmädchen radeln in Schuluniformen zur Schule. Kniestrümpfe. Darüber Faltenrock. Dazwischen nackte Beine. Am Morgen immer unser erster Blick aus dem Fenster. Das Feld ist nicht selten raubereift. Kein Bauer harkt gefrorenen Boden.

Es ist, als ob die Kälte nicht zur Kenntnis genommen würde. Nirgends. Weder in den schönsten Gärten des Landes noch in den Wohnungen noch auf der Strasse. In keinem Restaurant kann man seinen Mantel aufhängen. Vorgestern stapfen wir am Chuzenji-See durch hohen, frischen, weichen, sanften, wunderbar unter den Füssen knirschenden, aber nassen Schnee. Mit uns ein paar vereinzelte junge Japaner. In Turnschuhen.

Die Frau, die im Shinkansen nach Utsunomiya hinter uns saß, hatte ein kleines Kind dabei. Es strampelte mit nackten Beinchen und Füßchen fröhlich auf dem Sitz herum. Der Hochgeschwindigkeitszug war gut geheizt. Angeblich sitzen die Kleinen auch mit nackten Beinchen und Füßchen im Kinderwagen. Wenn sie im Januar durch die Stadt in den Kindergarten geschoben werden. Angeblich werden Füße früh abgehärtet.

Heute vor zehn Jahren bebte um 5.50 Uhr die Erde in Kobe. Mario, der in solchen Fällen Dienst vor Ort fürs ZDF schiebt, erzählte, nicht das Erdbeben selbst hätte die meisten Opfer gefordert, sondern die Brände. Die durch umstürzende offene Ölöfen verursachten Brände. In uralten Holzhäusern. Die eigentlich stehen geblieben waren. Aber dann loderten. Wie das Fegefeuer höchstpersönlich. Wir aßen zu Mittag (himmlisch: Ramen, Gyoza + heißen Sake) am Chuzenji-See neben so einem Ofen. Ich streckte seiner blauen Flamme meine kalten Hände entgegen. Und konnte mir ihr Ausmaß an Verheerung gut vorstellen.

In den Tempeln und Landhäusern der Tokugawas ziehen wir wie alle die Schuhe aus und tappen auf Wollsocken über eiskalte, auf Hochglanz polierte Lackböden. Warum nur wir am nächsten Tag wieder Schnupfen haben, verstehe ich nicht. Die alten Frauen in ihren dünnen Nylonstrümpfen sehen gesund aus. Am schlimmsten ist es, wie kürzlich geschehen, wenn unsere lammfellgefütterten Schuhe von Frieda aus Menznau stundenlang vor dem Volkshaus in Tsukuba auf unsere kalten Füße warten müssen. Ob unsere Mütter daran schuld sind, dass wir unter solchen Umständen nicht mehr warm werden können. Wurden wir Nord- und Mittel-Europäer in unserer Alpenkindheit verzärtelten mit langen Unterhosen und dicken Stiefeln? Ich erinnere mich nur noch an den ewige Kämpfe im Frühling um die ersten Kniestrümpfe. Um das erste blutig geschlagene, wochenlang verschorfte Knie.

Geheizt wird, wenn überhaupt, punktuell. Die Klobrille ist sogar auf der schmierigsten Toilette am Bahnhof körperwarm. Aus der Air-condition im Supermarkt strömt irgendwo ein Schwall brennend heißer Luft. Zum Ersticken. Rasende Kopfschmerzen. Werden dir übergestülpt wie eine Duschkappe. Deshalb fragte ich Mario, ob es Wärmflaschen zu kaufen gibt. Das einfachste Mittel, nachts nicht in eiskalte Laken steigen zu müssen. Er schlafe unter einer elektrischen Wärmedecke, meinte er und verneinte. Es gäbe aber Wunderwärmekissen. In beliebigen Größen. Etwas ekelhaft Giftiges, wie ich annehme, das Wärme entwickelt durch Reibung. Handwärme. Wir kauften eine Packung. Der Inhalt fühlt sich sandig an. Außen gibt es eine Klebefläche. Die Frauen kleben sich die Teilchen an schmerzende Körperteile. An das unterkühlte Kreuz. Über den rauschenden Bauch. Die Kissen halten 6 – 8 Stunden warm. Einen ganzen Arbeitstag lang. Alle Empfangssekretärinnen, die ich bisher gesehen habe, tragen in den repräsentativen Empfangshallen Stöckelschuhe und eine karierte Großmutterwolldecke über den Knien. Die Bibliothek im Ninomiya-House ist deshalb so eisig, weil sie offen und fünf Stockwerke hoch ist. Nach unten architektonisch verspielt offen in den Eingangsbereich. Nach oben bis zum Fuji. Im Sommer, denke ich, ist diese Bibliothek bestimmt der angenehmste Ort im ganzen Haus. Kühl, luftig, leise. Im Winter eine Eishölle.

Vielleicht wollen sie ihre Häuser nicht heizen. Meinte gestern mein privates Ganzkörperlebendwärmekissen. Dieses hochtechnisierte Land sollte doch in der Lage sein, Zentralheizungen und zugluftdichte Fensterrahmen zu bauen.

Vielleicht sieht im Sommer alles ganz anders aus. Denke ich. Vielleicht brauchen die Menschen in der feuchten Hitze den kalten Luftzug. Die verschiebbaren Wände. Das transparente Papier.

Den ganzen Tag, die Sonne schien vom frühen Morgen an, Fuji zeigte sich mir durch die Wolken, die Wäsche trocknete auf dem Balkon, drei Hemden ließen sich widerstandslos bügeln, will mir etwas nicht aus dem Kopf: die Meldung auf www.n-tv.de. Moshammer wurde in seiner gut geheizten Münchner Villa erdrosselt. Angeblich wegen 2000 Euro, die er für „erbrachte Liebesdienste“ nicht zu bezahlen bereit war. Was für ein armes Schwein! Hatte sein Lebtag weder kalte Füße noch ein leeres Konto.

Wie schön ist es, im Winter in Japan zu frieren und im Ninomiya-House in dem vom eigenen Ehemann angewärmten Bett einzuschlafen.


 
Sonntag, Januar 16, 2005
  Lebarten .

Nichiyobi – Tag der Sonne. Es regnet und regnet und regnet und hört nicht mehr auf. Wir schliefen fast bis zum Mittag. Erschöpft von einer zweitägigen Reise durch ein Land, in dem wir fast nichts lesen, kaum etwas hören und gar nichts verstehen können. Wir waren immer auf der Hut. Im Schneetreiben in Nikko. Im Garten Shoyoen. Tausende von Stufen hoch zum Grab Tokugawas. Auf Strümpfen in den Tempeln, im Schatzhaus, in den Schreinen. Die wir fast allein betreten durften. In der Halle des Drachengebrülls. Wo ein Mönch mit einer Holzklappe für eine Handvoll Japaner Resonanzkatastrophen erzeugte. Nikko heißt Sonnenglanz. Wir waren fast ganz allein. Und doch immer auf der Hut. Unter dem frisch gefallenen Schnee lag das Eis der letzten Nächte. Den riesigen Schuhregalen nach zu urteilen, unterteilt in Abteilungen „für Gruppenmenschen“ und für „Einzelmenschen“, müssen sich an normalen Tagen Heerscharen von Besuchern tummeln, drängeln, anstellen. In Einbahnstrassen bewegen. Wir waren allein mit den Mönchen, die des Schnees Herr zu werden versuchten. Vergeblich. Eine Fotografin hatte unter einem Vordach ihre Kamera installiert. Der Schnee verschluckte alle Geräusche. Es war still wie in einem Grab. Aber hell und bunt. Leuchtendes Rot. Leuchtendes Grün. Leuchtendes Gold. Von allen Toren verfolgten uns Torhüterfratzen mit Windsäcken oder Donnerkeilen. Sie und das sie umgebende Rotgold werden Tag und Nacht von weichen Lappen in Frauenhänden umschmeichelt. Tokugawas Urnengrab, auf dem höchsten Punkt der ganzen Tempelanlage gelegen, ist eine wohltuend schlichte und runde Bronzeangelegenheit. Nur die Zedern wachsen höher in den Himmel. Wie werden in diesem Land die Kaiser begraben? Frage ich und keiner antwortet. Wir sind auf der Hut. In den Bussen. In den Zügen. Auf den Bahnhöfen. Unsere Wintermäntel sind heute noch nass. Auf der Strasse. Im Eismatsch. Im Nachtregen. Die Spannung ließ erst nach, als wir im doppelstöckigen Bus nach Tsukuba saßen.

Tag der Sonne – nichiyobi. Die Woche beginnt oder endet mit dem Tag der Sonne. Je nach Lebart. Aber auf die Sonne, auf den Sonntag, den Tag der Sonne folgt immer, im Japanischen, im Deutschen und in fast allen lateinischen Sprachen der Welt, der Mond, der Montag, der Tag des Mondes. Getsuyobi. Sonne – Mond. Nichi – getsu. Danach treten in der Japanischen Zeitvorstellung die Elemente auf: Feuer, Wasser, Holz, Metall, Erde. Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag. Die Kanji-Zeichen hat mir der Professor noch gestern Nacht vorgemalt. Und ich ihm die Laute vorgesprochen. Das Feuerzeichen besteht aus einem langen Strich und drei kurzen. Eine prasselnde Feuerstelle. Wasser ist ein Wasserrad. Holz ein Baum. Metall etwas für mich Kompliziertes mit einem Dach darüber. Erde wie Erde: ein breiter waagrechter Strich unten, in der Mitte im rechten Winkel ein Strich nach oben, in dessen Mitte ein zweiter, kürzerer waagrechter Strich. Wir mussten die Unruhe der Reise irgendwie ausbügeln. Ausmalen. Den Schnee aus den Handschuhen schütteln. Nasse Schals und Mützen aufhängen. Den Regenschirm über die Badewanne spannen. Mit Whisky und Kanji und japanischer Lesart: ka-yobi, sui-yobi, moku-yobi, kin-yobi, do-yobi. Einschließlich Sonntag und Montag: nichi-yobi, getsu-yobi.

Yobi für den Tag der Woche besteht aus zwei Kanji-Zeichen. Das –bi sieht aus wie die Sonne, bzw. der Sonntag, ein hochstehendes Rechteck mit einem Querstrich. Das yo- ist in seiner Unergründlichkeit unverwechselbar. Warum aber das Element Luft in der japanischen Woche fehlt, bleibt auch heute früh ein Rätsel. Und warum Holz (oder Baum) vielleicht als Grundelement gegen Luft eingetauscht wurde, kann im Regen auch nicht geklärt werden. Die Systematik einer gar nicht so fremden Zeit- und Weltvorstellung. Mond, Feuer, Wasser, Holz, Metall, Erde. Und die Sonne steht zwischen Erde und Mond. Wie am Himmel. Aoki-san arbeitet auch sonntags. Er schickte heute früh, wahrscheinlich erleichtert darüber, dass wir ohne gebrochene Rippen aus dem verschneiten Nikko zurückgekommen sind (was wir ihm wie gehorsame Schüler gleich nach der Rückkehr übermittelten), eine email, der Professor möge sich bis Ende des Monats für ein zweites Stipendium bewerben. Der Schock sitzt tief. In unseren kaum zur Ruhe gekommenen Seelen.


 
Judith Arlt in Japan. -- Es hat mich in ein Land verschlagen, das sauberer ist als die Schweiz. -- Zu einer Jahreszeit, die ich lieber bei den wildlebenden Kaiserpinguinen auf dem Meereis in der Weddel See verbringen würde. -- Als begleitendes Familienmitglied eines Research Fellows der Japan Society for the Promotion of Science. -- Judith Arlt in Tsukuba Science City, Präfektur Ibaraki.

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