Japan2005
Samstag, Januar 08, 2005
  Das rosarote Bügeleisen .

für Tanja Dückers

Auf den gestrigen Edelmetall-Tag folgt der heutige Erd-Tag: doyobi. Den Professor packte bereits gestern Abend die Verzweiflung. Dies ist normal, sprach aus ihm der langjährige Reiseleiter, nach der Euphorie kommt die Verzweiflung, bevor irgendwann die Anpassung einsetzt. Ich tröstete ihn, so gut ich konnte, trank tapfer ein Gläschen Sake mehr als gewöhnlich mit.

Doyobi. Dem Irdischen zugewandt. Ein bodenständiger Samstag. Unser Apartment 2108 im Ninomiya-House betreten wir durch einen langen Flur. Direkt hinter der Eingangstür eine kleine kalte Steinfläche, auf der die Schuhe auszuziehen sind. Daneben ein Schuhschrank, der mindestens 50 Paar Schuhe aufnehmen kann. Aber keine Möglichkeit, unsere manchmal schneenassen Wintermäntel aufzuhängen. Auf Strümpfen durch den weiteren, nun mit dezent hellbeigen Teppichquadraten ausgelegten Flur. Rechts zuerst das Bad, dann die Toilette und schließlich die Küche. Das geräumige Wohnzimmer öffnet sich am Ende des Flurs geradeaus auf den Balkon zu sowie nach links, bzw. nach Nordwesten. Durch eine mit japanischem Papier bespannte Schiebetür gelangt man links um die Ecke in das Schlafzimmer. Die beiden Wandschränke an der Stirnseite, das heißt ungefähr auf der Höhe der hinter der Eingangstür wartenden Lammfellschuhe, sind die kältesten Stellen in der Wohnung. Darin hängen an zwei von sechs Kleiderbügeln unsere Mäntel.

Nach unserer Ankunft am Feuertag – kayobi, legten wir uns zuerst zwei Stunden ins Bett. Erstens waren wir hundemüde, litten an jetlag. Zweitens war die Wohnung so eiskalt, dass einzig unter den dicken Bettdecken Wärme – Feuer! – zu entfachen war. Den Rest des Jahres brachten wir damit zu, Gebrauchsanweisungen zu lesen. Beginnen wir noch einmal von vorn: Das Badezimmer. Eine Hightech-Einrichtung, bestehend aus einer Nasszelle (Badewanne, Dusche sowie der einzige Spiegel in Menschengröße in der ganzen Wohnung) und einer Trockenzelle (Waschmaschine, Waschbecken darüber Spiegelschrank). Nass- und Trockenzelle in dezentem beige. Aus pflegeleichtem Mattplastik. In der Badewanne soll man keine Seife benützen. Sondern sich vorher unter der Dusche einseifen. Vom Spiegel steht nichts in der Gebrauchs- und Pflegeanweisung. Er beschlägt immer sofort. Ob man die Nasszelle als Waschraum benützt oder als Trockenraum für Wäsche. In letzterem Fall die Zwischentür zur Trockenzelle schließen und den Knopf DRY drücken, den Timer auf 6 Stunden einstellen. Es gibt für den fensterlosen Kubus aus Kunststoff drei weitere Lüftungs- bzw. Heizungsknöpfe. Und – sehr wichtig – den elektronischen Heißwasserpoint. Er ist auf 42° vorprogrammiert, heißer kann weder gebadet noch geduscht noch gewaschen werden. Die Trockenzelle kann nicht geheizt werden, Zähne putzen wir mit zitternden Händen. Hier kann nur eventuell aus der Nasszelle eingedrungener Dampf abgezogen werden. Die Waschmaschine wird von der Hausfrau bedient, ebenso wie das Bügeleisen. Dazu später mehr. Weiter zur Toilette. Der Raum soll nur mit extra Hausschuhen betreten werden. Die Klobrille ist heizbar, den Hintern kann man sich mit einem warmen Wasserstrahl besprühen lassen, dessen Stärke variierbar ist. Wer beabsichtigt, längere Zeit zu sitzen, soll die Klobrillenheizung ausschalten, um „low-temperature burns“ zu vermeiden. Aus dem Spülkasten ragt in der Mitte ein glänzender Wasserhahn heraus, dessen eiskalter Strahl nach Betätigung der Spülung das Spülbecken wieder auffüllt und Gelegenheit gibt, die Hände zu waschen. Aber bitte ohne Seife. Diese könnte einen Elektroschock auslösen. Nur der Wasserhahn glänzt in dieser Zelle. Alles andere besteht aus stumpfem Kunststoff, dezent hellbeige. Nach dem Händewaschen weiter in die Küche. Normale Einbauküche. Normaler Gasherd. Normale Abzugshaube. Normale Kühlgefrierkombination. Normale Mikrowelle, die ein Liedchen trällert, wenn der Sake warm ist, sowie nach jeweils zehn Sekunden piepsend daran erinnert, falls wir den warmen Reiswein noch nicht entnommen haben. Abnormales, überdimensioniertes Spülbecken. Ausgestattet mit einem „food waste disposer“. Essensreste und Gemüseabfälle landen in Japan nicht im Müll, sondern im „disposer“ in der Küche. Alles wird da – ins normale Abflussrohr – in fingerfoodgerechten Größen hineingestopft (außer Porzellan, Glas, Uhren usw.). Dann „Noise insulation Lid“ auflegen und Startknopf drücken. Ein ohrenbetäubendes Röhren erhebt sich, die ganze Küche erzittert. Ein Gedröhn wie von den Dreschmaschinen auf dem Bauernhof meiner Großeltern in Büren. Nach einer halben Minute wird gespült, mit OralB wie beim Zahnarzt, und dann ist alles weg. Vom Erdboden verschluckt. Deshalb stinkt es im gutsortierten Mülltrennraum in der Tiefgarage nicht. Deshalb tuscheln dort keine verliebten Mäuse und Ratten, wenn das Licht angeht.

Mehr gibt es nicht zu erzählen. Außer dass die Wohnung für japanische Verhältnisse riesengroß ist. Dass sie mit einer Fußbodenheizung ausgestattet ist, die uns das Leben wärmetechnisch erleichtert, uns aber von Hirosawa während der Einführung am Feuertag trotzdem nicht ans Herz gelegt wurde („you have to pay a lot of gas for it, I don’t recommend“). Dass die Wäsche auch im tiefsten Winter auf dem Balkon aufgehängt wird (dieselbe Hirosawa: „In Japan we dry the washing outside“), und nur bei allergarstigstem Wetter in der zum Trockenraum umfunktionierten Nasszelle getrocknet werden soll. Dass es keine Farbe gibt (außer den bunten Bildern von der Weihnachtsflut aus dem TV) und nichts glänzt. Der Professor lacht mich aus, weil ich Tanizaki Jun’ichiro glaube und lese. „Lob des Schattens. Entwurf einer japanischen Ästhetik“. Die Japaner lieben keine polierten Oberflächen. Nur in Shinjuku und auf dem Flughafen Narita habe ich es glänzen gesehen – von den blitzblanken Fußböden, über die täglich Millionen schmutziger Schuhe laufen. Aber sie mögen keine Porzellan-Klo-Schüsseln, keine Porzellan-Badewannen, keine Porzellan-Waschbecken. Keine kalkfreigescheuerten Armaturen. „Im allgemeinen werden wir von innerer Unruhe erfasst, wenn wir hell glänzende Dinge sehen“, schreibt Tanizaki Jun’ichiro und der Nachhaltigkeitsspezialist lacht mich aus, weil er dies vor etwa hundert Jahren geschrieben habe. Damals liebten sie das hosho-Papier, sage ich trotzig, „welches die Lichtstrahlen wie eine Fläche weichen, frisch gefallenen Schnees satt in sich aufsaugt“, heute den stumpfen Kunststoff. Das Prinzip bleibt und ich zitiere weiter: „In China gibt es das Wort ‚Handglanz’, in Japan das Wort ‚nare’; beide meinen den Glanz, der entsteht, wenn eine Stelle von Menschenhänden während langer Zeit angefasst, glattgescheuert wird und die Ausdünstungen allmählich ins Material eindringen. Es handelt sich also, anders gesagt, zweifelsohne um den Schweiß und den Schmutz der Hände. Jedenfalls darf nicht geleugnet werden, dass in dem, was wir als ‚Raffinement’ schätzen, ein Element von Unreinlichkeit und mangelnder Hygiene steckt. Während die Abendländer den Schmutz radikal aufzudecken und zu entfernen trachten, konservieren ihn die Ostasiaten sorgfältig und ästhetisieren ihn, so wie er ist.“

Sicherlich bieten die warmen Klobrillen auf den Toiletten des Kasumi-Supermarkts eine prima Grundlage für Bakterienkulturen aller Art. Ich setzte mich nicht darauf. Fasste sie aber mit Fingerspitzen an. Und meine Frage bleibt im kalten Raum wie eine Eisblume stehen, weshalb in diesem Land Klobrillen gewärmt werden können, die Häuser aber nicht geheizt.

Zurück zur Waschmaschine, dem Staubsauger und dem rosaroten Bügeleisen. Die Gebrauchsanleitung für die Waschmaschine ist dürftig. Ebenso die für den Spielzeugstaubsauger (zugegeben, die Japanerinnen sind kleiner als ich). Für das Bügeleisen gibt es gar keine. Nachdem alles in der Wohnung mit hunderten Warnsignalen versehen ist, besteht die Waschmaschine aus einer Trommel und einem lose darauf aufliegenden, dezent beigen (wen wundert’s?) Kunststoffdeckel. Nachdem wir an allen Ecken Tag und Nacht angehalten werden, auf unsere nie zur Welt gekommenen Kinder zu achten, kann der Deckel der Waschmaschine angehoben werden, ohne dass diese aufhört zu waschen, zu schleudern. Sie macht nicht einmal "pieps". Ein sechsjähriger Junge kann also im Übermut in das Seifenwasser hineinspringen. Aber es wird ihm nichts geschehen. Man soll in diesem Land seine Wäsche nicht heißer als mit 50° waschen. Nicht, damit das dummerweise hineingefallene Baby sich nicht verbrüht, sondern damit die Plastikteile der Waschmaschine nicht schmelzen. Das Bügeleisen ist so pinkfarben, dass mir übel wird. Missmutig bügle ich die an der frischen Winterluft getrockneten (erstaunlich: innerhalb eines halben Tages ist alles auf dem Balkon furztrocken, wie wir Schweizer zu sagen pflegen) Hemden des Professors. Wütend, weil ich keine Gebrauchsanweisung habe. Obwohl das rosarote Ding einwandfrei funktioniert, mit Dampf oder ohne. Ich fühle mich benachteiligt. Nicht für voll genommen. Was Frauen zu erledigen haben, wissen sie aus der Luft. Oder aus dem Bauch. Die ganze Hightech ist für Männer angelegt. Ich musste meine gesammelte promovierte Intelligenz aufbieten, um herauszufinden, dass hier die Waschtemperatur – variierbar eh nur zwischen 30° und 40°, aber immerhin! – nicht an der Waschmaschine, sondern am Wasserhahn eingestellt wird. Dass die Waschmaschine das Wasser nicht aufheizt, sondern heiß aus der Wand zieht. Dass aber alles nichts hilft, wenn nicht vorher die Heißwasserzufuhr elektronisch auf „on“ geschaltet wurde. Nur in Birmingham habe ich ähnlichen Irrsinn erlebt. Dort müssen die Steckdosen eingeschaltet werden, damit der Strom fließt.

Das reicht für heute. Aoki-san wartet unten. Wir gehen mit seiner 84-jährigen Mutter und einem Bielefelder DAF-Ehepaar Würstel essen.


 
Freitag, Januar 07, 2005
  Instruktion – instrukcja (zob. niżej) .

Heute ist Edelmetall-Tag – kinyobi. Gold, Silber, Platin – also der richtige Tag für Änderungen zum Besseren. Die Textflut auf meinem Blog wird unübersichtlich. Erstens werde ich die Texte nun jeweils nach einer Woche ins Archiv verschieben. Dort können sie weiterhin normal eingesehen und kommentiert werden, die Titelseite bleibt aktuell. Zweitens werde ich für meine polnischen Freunde einen zweiten Blog in Polnisch führen. Sie freuen sich auch über Neuigkeiten aus Tsukuba, die deutschen und polnischen Texte zu vermischen ist aber für alle verwirrend.

Für die deutschen Leser bleibt alles, wie bisher.

Über email vernehme ich, dass nicht allen klar ist, wie Kommentare zu meinen Texten geschrieben werden können. Deshalb hier eine kurze Wegbeschreibung:

  1. Unter dem betreffenden Blogeintrag, zu dem ein Kommentar abgegeben werden möchte, auf „comment“ klicken. Danach springt leider der Text an den Anfang, also bitte mit dem Cursor wieder an das Ende des Textes gehen.
  2. „Post a comment“ anklicken.
  3. Darauf öffnet sich die Eingabemaske „Comment Sign In“. Hier unter der Maske auf „Or Post Anonymously“ klicken (das heißt, Ihr müsst Euch nicht anmelden – könnt aber den Kommentar selbstverständlich mit eigenem Namen unterschreiben, braucht nicht anonym zu bleiben
  4. Dann öffnet sich das Feld, in dem der Kommentar eingegeben werden kann.
  5. Abschließend „Publish Your comment“ anklicken

Danke! Ich freue mich sehr über alle Kommentare und Reaktionen, ob per email oder im Blog.

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Dziś jest dzień metalu szlachetnego – kinyobi. Złoto. Srebro. Platin – więc właściwy dzień dla niektórych zmian na lepsze. Ponieważ już jest tyle tekstu na moim blogu, postanowiłam po tygodniu przesłać teksty do archiwum. Tam nadal będą normalnie dostępne, a strona pierwsza będzie mniej zatłoczona. Po drugie, dla Was, Miłych Przyjaciół Polskich, otwieram dziś nowy blog po polsku. Postaram się pisać regularnie również po polsku i dostarczyć Wam wszystkich ważnych nowości z Tsukuba.

Polskich czytelników proszę więc o kliknięcie na „Blog z Japonii” na mojej stronie internetowej – i otwiera się blog polski.

Można śmiało wpisywać komentarze do moich tekstów, jest to bardzo proste:

  1. kliknąć na „comment” pod danym tekście. Ekran tu niestety pokazuje początek tekstu, proszę kursorem wracać do końca.
  2. kliknąć na „Post a comment”
  3. Otwiera się maska „Comment Sign In”, tu kliknąć na „Or Post Anonymously“
  4. Otwiera się pole, na którym można pisać komentarz.
  5. Na końcu kliknąć na „Publish Your comment”

Dziękuję! Cieszę się ogromnie z każdego komentarza, czy emailem czy blogowaniem.

 
Donnerstag, Januar 06, 2005
  Kairaku-En .

Der Tag versprach hausfrauliche Idylle: ich wollte mich ergehen über die japanischen Wochentage. Der heutige Donnerstag ist im Japanischen der „Holztag“ – mokuyobi. Aiga-san, die Japanischlehrerin an der Volkshochschule Mitte in Berlin hämmerte uns, ohne etwas zu erklären, die Wochentage ein wie die Zahlen, die Monate, die Monatstage (für den 6. Januar gebraucht man beileibe nicht dasselbe Zahlwort wie für 6 Eier), die Hiraganasilben und anderen Unsinn. Sie schrieb uns Tokyo in Hiragana an die Tafel und außer mir haben es alle getreulich abgeschrieben. Erst jetzt verstehe ich, woher damals, im Mai letzten Jahres mein innerer Aufruhr kam und weshalb ich den Kurs noch vor der vorletzten Stunde abbrach. Kein Mensch schreibt Tokyo in Hiragana, dafür stehen zwei Kanji-Zeichen, auf jedem im Abendwind schwankenden Schild über der Autobahn, sowie die Entfernung in handelsüblicher Verabreichungsform: 325 km.
Mein angeheirateter Sinologe wusste, kaum hatten wir letzte Woche mit Jetlag die Instruktionen über das eiskalte Apartment 2108 im Ninomiya House und die Mülltrennung in diesem Lande über uns ergehen lassen, kaum waren wir die ersten Minuten in unserer neuen Wohnung allein, sofort, dass wir am Feuertag angekommen waren. Der Funkwecker, der zum Inventar des Schlafzimmers gehört, zeigt neben der richtigen Zeit auch den richtigen Tag. Ein einziges Kanji-Zeichen. Es war Dienstag, der 28. Dezember. Und ich blätterte hier als erstes in meinem Schulheft: kayobi – „Feuertag“. Aiga-san erklärte uns nichts. Sie verkündete immer nur laut: zuerst lernen, dann fragen. Die Wochentage in Japan sind nach Elementen sortiert. So hätte ich sie mir merken wollen. Aber Aiga-san's Kindergartenmethoden behagten mir nicht. Und ich blieb ihrem Kurs fern.

Heute nun wollte ich das Versäumte nachholen. Mir die sieben Wochentage merken. Aber da klingelte das Telefon, der Professor, der früh aus dem Haus gegangen war, weil er mit Aoki-san einen wichtigen Termin bei der Präfekturverwaltung wahrzunehmen hatte, und den ich längst im Stau auf der nördlichen Ausfallstraße wähnte, meldete sich mit „Ich bin’s“. Es hieß, sagte er, ich könnte mitfahren. Nach Mito. Dort soll es sehr schön sein. Da sagt man nicht nein, als höflich mitreisende Ehefrau. Den Staubsauger hatte ich bereits in Gang gesetzt. Nicht weil ich putzen wollte, sondern weil mir beim Aufwachen in den Sinn gekommen war, dass uns nur sieben Tage Zeit gegeben war, alle elektrischen Geräte im Apartment auf ihre Funktionstüchtigkeit zu testen. Was danach seinen Geist aufgibt, müssen wir auf eigene Kosten ersetzen. Der Staubsauger! Dachte ich heute früh als erstes und sprang in Panik aus dem Bett. Aber dazu später mehr („Das rosarote Bügeleisen“).

Ich ließ also die Wochentage liegen und fuhr nach Mito. In die Hauptstadt der Präfektur Ibaraki. Ins höchste und modernste Gebäude. Es gab zwei Gespräche. Eines im zwölften Stockwerk, in der Abteilung für internationale Beziehungen. Und eines im fünfzehnten, spontan und unangemeldet beim Tourismusdepartment. Zum Glück tauchte irgendwoher (Kafkas Welt ist ein Sandkasten dagegen) eine Französin auf, die nicht nur Japanisch sprach, sondern auch deutsch. Sie übersetzte mit einer Inbrunst, dass es eine Freude war, ihr zuzusehen. Ich saß in zwei Großraumbüros. Mit jeweils mindestens 80 bebrillten BürolistInnen. An einem Besprechungstisch für sechs Personen. Die Stille war überwältigend. Keiner sprach. Außer uns. Das heißt dem Professor, der Übersetzerin und Hiroshi N. Wir hatten uns etwas verspätet. Und so zog sich das zweite Gespräch in die Mittagspause hinein. Punkt zwölf Uhr (die Schweizer sind Milchbuben dagegen) erschollen durch Lautsprecher die Mittagsnachrichten. Auf mehreren Bildschirmen im Raum waren sie auch zu sehen. Alle schreckten auf. Außer uns am Besprechungstisch über eine Sightseeing-Karte von Ibaraki Gebeugten. Die höfliche Ergebenheit war so überwältigend wie die Totenstille von 80 arbeitenden Menschen. Die jetzt sich leise erhoben, auf Zehenspitzen heißes Wasser in die Teebecher gossen, sich wieder hinsetzten, Lunchpakete auspackten, kalte Nudeln schlürften. Mein engagierter Nachhaltigkeitsexperte war nicht zu bremsen. Die Französin, Véronique, hielt mit. Ich stieß ihn in die Seite. Er merkte nichts. Um 12.15 Uhr ging das Licht aus.

Mito liegt am nördlichen Ende des größten Reisfelds Japans, der Kanto-Ebene. In Mito ist einer der drei schönsten Gärten Japans zu bewundern – Kairaku-En, angelegt um 1842 von Nariaki Tokugawa, dem neunten Lord des Mito-Clans. Deshalb wurde ich von Aoki-san gebeten, mitzufahren. Um am christlichen Dreikönigstag durch verknospte Pflaumenbäume und vereinzelt blühende Kamelien zu spazieren, den To-Gyoku-Sen, den juwelensprudelnden Brunnen anzubeten, mir die Irisblüten darum herum einzubilden, den ersten Bambuswald meines Lebens zu sehen, auf Strümpfen (die Lammfellschuhe in einer Plastiktüte am linken Arm) durch den januarkalten Palast, den Kobun-Tei zu laufen. Über lackierte Holzböden, Tatamis und pflegeleichte Auslegeware. Einer der drei schönsten Gärten Japans! Heute durchschnitten von der Eisenbahnlinie Mito – Tokyo sowie einer mehrspurigen nord-süd-ausgerichteten Autobahn.

Wo die beiden anderen schönsten Gärten sind, muss ich nochmals nachfragen. Mit kalten Füssen kann ich mir so gar nichts merken.

Auf dem Heimweg fing es an zu regnen. Angekommen, griffen wir im Kühlschrank nach unserer Notreserve. Einer Flasche Żubrówka. Produced in Białystok. Aus dem Kasumi Flaschenregal.


P.S. Der Name des Palastes, Kobun-Tei soll einem alten chinesischen Sinnspruch nachgebildet sein:

When the literacy is loved,
The ume blossoms will open
When learning is prohibited,
Then the ume blossoms will close

Ich muss also jetzt unbedingt zu den Wochentagen zurückkehren, sonst steht die diesjährige Pflaumenblüte in Gefahr.
 
Mittwoch, Januar 05, 2005
  Doho Park .

Um acht Uhr zehn klingelte das Telefon. Noch ist es unvertraut. Ich griff instinktiv nach dem Wecker. Der aber schwieg. Noch brauchen wir viel Schlaf. Und tief. Die Sonne stand schon eine Stunde über Tsukuba. Jeannette aus London wollte vor dem Zubettgehen wissen, wie wir mit zweitem Vornamen heißen. Sie hat billige Flüge nach Glasgow entdeckt und will unbedingt buchen. Für unseren gemeinsamen Urlaub im August in Ardnamurchan.

Der Professor hat heute Hausaufgaben zu erledigen, deswegen schwieg der Wecker. Auf die Schweizer Freunde ist Verlass und sie sind über die ganze Welt zerstreut. Da das Wetter prächtig ist, schwingen wir uns auf die Fahrräder und fahren zuerst einkaufen, was immer noch unverhältnismäßig viel Zeit in Anspruch nimmt, da wir nach wie vor herumstaunen und stundenlang Verpackungen nach einem verständlichen Wort, einem Kanji oder einem internationalen Symbol absuchen. Jeden Tag gibt es neue Erleuchtungen. Vorgestern die Erkenntnis im Supermarkt Kasumi, dass deswegen in keinem Regal Nudeln zu finden sind, weil sie frisch im Kühlregal liegen. Udonnudeln (dicke, weiche aus Weizenmehl) neben Sobanudeln (braune, aus Buchweizen) neben Reisnudeln (durchsichtige, dünne). Portionenweise abgepackt. Haltbar jeweils ein bis zwei Tage. Die Verzweiflung folgt auf dem Fuß: nicht einmal Nudeln können auf Vorrat eingekauft werden. Der Tourismusexperte fragte gestern im Umweltinstitut nach, das sich auf Zukunftsszenarien des „Global Warming“ spezialisiert, warum es in Japan keine Haltbarkeit von Lebensmitteln gibt. Und die Antwort war – einmal mehr – so einfach wie verblüffend: „Because of climatic conditions“. Orangensaft im Tetrapack, verflüssigtes Konzentrat wie in Europa, ist hier höchstens zwei Wochen haltbar. Dort im Schnitt ein Jahr. Eine rund abgepackte Portion Sushireis mit Kräutern, oder eine dreieckig in Seetang gehüllte, muss am gleichen Tag verzehrt werden. Kalt, eignet sich nicht zum Erwärmen in der Mikrowelle, aber bestens als Proviant für die Busreise nach Tokyo. Die Nudeln für unser Abendessen müssen täglich aus dem Kasumi-Kühlregal geholt werden. Ich frage mich, wozu in unserem Apartment ein Kühlschrank steht. Nachts herrschen zur Zeit auch hier Minustemperaturen. Nur tagsüber verführt der blaue Himmel. Und die flache Stadt im größten Reisfeld des Landes. Zu Fahrradausflügen. In den Doho Park.

Der Doho Park. Die Erleuchtung von heute. Radelnd bequem in einer Viertelstunde vom Ninomiya House aus zu erreichen. Im Park ein Sportzentrum mit Schwimmbad. Die Verzweiflung fehlt aber auch diesmal nicht: Heute offenbar geschlossen wegen Großreinemachens. Eine Putzfrau kippt gerade einen Kübel Seifenwasser vor unseren Füßen aus und ruft uns etwas Unverständliches zu. Öffnungszeiten sind von außen nicht zu erkennen. Auch nicht, ob „Japanese only“. So setzen wir uns auf eine Bank an die Sonne, glotzen auf einen kleinen Teich und überschlagen unsere Lage. Kinder füttern dicke Graugänse mit Weißbrot (erstanden bestimmt im „Sieger“, dem österreichischen „Café und Konditorei“ am nordwestlichen Zipfel des Parks – Foto von dem k.u.k.-Unikum mit rotweißgestreifter flatternder Fahne an der Hausecke folgt). Über das Wasser schwebt ein Reiher und setzt elegant auf einem Holzpfahl auf.

Wir sind hungrig und gierig wie die Graugänse. Essen üppig bei Otaru Zushi, sogar mit Nachtisch. Fahren nach Hause. Nehmen aus purem Übermut im Ninomiya House den Süd-Fahrstuhl in den 9. Stock, wo sich ein Salon, zwei Zimmer im „Japanese Style“ und ein Dachgarten befinden. Alle Türen sind abgeschlossen, die Räume können für 191 Yen die Stunde gemietet werden. Vom offenen Fahrstuhl aus sehen wir in der Ferne den schneeweißen Fuji.

Das reicht für heute an Schönem. Wir machen uns endlich an unser Tagewerk. 
Dienstag, Januar 04, 2005
  Der erste Arbeitstag .

Mein Nachhaltigkeitsspezialist marschierte heute früh in den ungefütterten Halbschuhen zu seinem Institut, mit dem er nicht sehr viel am Hut hat. „National Institute for Environmental Studies“. Das heißt, er nahm das Fahrrad, denn die Sonne scheint, und steckte die Begrüßungsgeschenke, von mir liebevoll eingewickelt und umbändelt, in den Einkaufskorb.

Bis gestern war hier Feiertag. Einkaufen konnten wir immer. Aber Geld wechseln oder Geld aus dem Automaten ziehen, war schwierig bis unmöglich. Die Banken waren alle geschlossen und an Feiertagen werden auch vor Geldautomaten Türen verriegelt und Rollläden heruntergelassen. Nächsten Montag ist wieder Feiertag. Volljährigkeitstag. In Tsukuba werden die zwischen dem 2. April 1984 und dem 1. April 1985 Geborenen zur „Coming of Age Day Celebration“ gebeten. Mein Tourismusexperte meint, man lege hier Feiertage seit einigen Jahren absichtlich auf Montage, um die Wochenenden zu verlängern und die Japaner zu mehr Konsum zu mobilisieren. Denn, weiß der Stipendiat aus Stralsund, die Japaner reisen zu wenig. Außerdem wird, wenn ein beweglicher Feiertag auf einen Sonntag fällt, dieser am Montag danach nachgeholt. Himmlische Zustände. Und nun hat man ihn und sein ganzes Nachhaltigkeitskonzept, das hier kaum ein Mensch versteht, zu den Umweltschützern und Naturwunderbeschauern gesteckt. Nachdem man uns sehr ans Herz gelegt hatte, bereits am 28. Dezember anzureisen, damit die zwei Monate bis zum 28. Februar für die Wissenschaft voll werden. Obwohl bis zum heutigen Tag keiner da war, keiner arbeitete, keiner forschte, keiner fragte, keiner wissen wollte, wie, wo und warum oder weshalb. Der Mensch, der im Institut für Umweltforschungen für Finanzen zuständig ist, hat zudem Urlaub bis zum 11. Januar. Wahrscheinlich, weil seine Tochter am 27. November 1984 geboren wurde und nun am 10. Januar volljährig wird. In Tsukuba gibt es keinen einzigen Geldautomaten, der eine nicht in Japan ausgestellte Visa-Karte akzeptiert. In Tokyo fanden wir vorgestern nach eineinhalbstündigem Herumirren an der Tokyo Station, bevor wir Mario in Nihonbashi umarmten, die einzige Wechselstube, die an diesem Tag offen und mit einer funktionierenden Umrechnungsmaschine ausgestattet war.

Derweil setzte ich mich – eh ich die Pflichten der begleitenden Ehefrau erfüllte – in die eisgekühlte Bibliothek im Ninomiya-House. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier, wo die Internet-Computer stehen und ein paar wenige Bücher in den Regalen liegen, internationale Zeitungen vom letzten Jahr herumhängen, die Temperatur konsequent unter der Außentemperatur gehalten wird (zum Winter in Japan, wie gesagt, später mehr). Im Tagesspiegel online las ich, dass heute in Berlin die Sonne um 8.16 Uhr aufgegangen ist, bzw. aufgehen wird. Also eine Minute später als am 21. Dezember, am Tag der Wintersonnenwende, dem vermeintlich kürzesten Tag des Jahres. Obwohl ich jämmerlich fror, denn ich hatte die Handschuhe in unserem Apartment vergessen, konnte ich mir ein schadenfreudiges Schmunzeln nicht verkneifen. Die Sonne geht in Tsukuba mindestens eine Stunde früher auf als in Berlin (vor 7 Uhr Ortszeit) und etwa eine Stunde später unter (gegen 17 Uhr). Aber damit nicht genug: Seit unserer Ankunft war sie täglich, außer an den zwei Schneegestöbertagen, zwischen acht und neun Stunden am klaren Himmel zu sehen. So auch heute. Also keine Spur von Winterdepression in Tsukuba! Wie es kommt, dass auch noch vierzehn Tage nach der Wintersonnenwende die Sonne in Berlin später aufgeht als am kürzesten Tag des Jahres, kann im heutigen Tagesspiegel nachgelesen werden. Nicht sehr überzeugend. Leider. Das Fazit ist lapidar: „Gefühle täuschen also nicht: Es ist etwas durcheinander gekommen in den letzten Tagen.“ Was durcheinander gekommen ist, wird nicht weiter ausgeführt. Dabei wissen wir doch mittlerweile alle, dass das Seebeben vor der Küste der indonesischen Insel Sumatra die Erdachse bis zu 8 Zentimeter gegenüber der Sollposition verschoben und die Rotation der Erde beschleunigt hat. Seither sind unsere Tage – nach Meinung von Berner Geophysikern – um den „nicht fühlbaren, aber messbaren“ Betrag von einigen Mikrosekunden, d.h. einigen Millionstel Sekunden kürzer. Und die nordwestliche Spitze Sumatras wanderte gute 35 Meter nach Südwesten, die ganze Insel wurde auf der einen Seite um etwa 30 Meter angehoben, auf der anderen Seite rutschte sie entsprechend in den indischen Ozean. Während kleinere Inseln der Region um etwa 20 Meter nach Südwesten geschoben und höher über den Meeresspiegel angehoben wurden. Wir sind alle aus der Bahn geworfen worden. Die Japaner übrigens, so scheint es mir, haben für die Tsunami-Opfer nur gerade ein mildes Lächeln übrig. Man baut hier erdbebensichere Wolkenkratzer und weiß mit Naturgewalten umzugehen, ignoriert den Winter und tut so, als ob es das ganze Jahr über Hochsommer wäre. Wieder sind aber 3 Japaner an den traditionellen Neujahrsreisbällchen erstickt. Trotz Empfehlungen der Regierung und des Kaisers höchstpersönlich, die klebrigen Klumpen in Teile zu zerlegen und nicht als ganzes in den Mund zu stecken.

Dann versuchte ich noch, von Ursula in einer email daran erinnert, während die Waschmaschine einen Schongang durchlief (auch dazu später mehr, unter dem Titel „Das rosarote Bügeleisen“), mein morgendliches Tai Chi zu absolvieren. Norden, hatte mir mein höchstpersönlicher Reiseführer und Privatkoch erklärt, ist dort, wo der Berg steht. Das ist für eine Schweizerin die einzig wahre Himmelsrichtung. Der Berg. Der hier so heißt, wie die Stadt: Tsukuba. Eines Tages werde ich Tsukuba bezwingen, denn hier gelten die Jahreszeiten nichts und herrscht ewiger Sonnenschein. Da aber der Berg in der Diagonale unseres Zimmers steht, kam ich völlig durcheinander. Beim Wolkenschieben wurde mir bewusst, dass ich die Wolken nicht nach Westen schob, sondern nach Süden. Und gab schnell auf. Denn bestimmt zieht dies großes Unheil nach sich. Der Schongang läutete bereits das Ende ein. Wie alles in dieser Wohnung, fängt auch die Waschmaschine zu singen an, wenn eine Einstellung fertig ist. Insgeheim war ich froh, den Kicks mit der Aussenkante für dieses eine Mal entkommen zu sein.

Alles weitere morgen früh. 
Montag, Januar 03, 2005
  Tokyo und Mario .

Gestern trafen wir in Tokyo unseren Freund Mario.

Tokyo und Mario.
Wir hatten uns tags zuvor telefonisch dort verabredet, wo der Bus aus Tsukuba uns in die Metropole ausspucken würde. Wolfgang, der Berliner Sinologe, der kein Japanisch kann, entzifferte die Kanji-Zeichen der Endstation als „Japan-Brücke“. Mario, der deutsche Fotograf, der seit über zwanzig Jahren in Tokyo lebt, konnte sich darunter nichts vorstellen. Trotzdem umarmten wir uns am Nordende der „Tokyo Station“, am Busbahnhof „Nihonbashi“ pünktlich um 12.30 Uhr.

Mario in Tokyo.
Ist nicht anders, als Mario in Berlin. Ab und zu. Alle paar Jahre. Auf einen Moment. Einen Abend. Einen Spaziergang. Der Luft war klar. Der Himmel blau. Die Sonne winterhart. Während der ganzen Fahrt im Bus von Norden in die Stadt hinein stand der schneebedeckte Kegel des Fuji majestätisch vor uns. Über mehrstöckigen Autobahnen. Über blassen Hochhäusern. Über unserem Staunen. Kein Smog, meinte Mario, das ist selten. Trotz Stau auf den Strassen. Trotz Jahreswechsel. Trotz öffentlichen Auftretens des Kaisers und seiner Familie. Winkend hinter Glas auf dem Balkon des Palastes. Es sind viele Fremde in der Stadt, sagte Mario, das sieht man an den Kleidern. Die sind wärmer angezogen als die Tokyoter. Wie wir, denke ich beschämt. Bereits in Tsukuba fallen wir auf mit unseren Wintermänteln, Mützen, Schals, Handschuhen und den lammfellgefütterten Winterschuhen (weiteres dazu "Winter in Japan" – folgt in Kürze). Mario und ich haben uns vielleicht drei, höchstens vier mal im Leben gesehen. Wolfgang war in einer früheren Karriere mit einer früheren Lebenspartnerin zusammen einmal Marios Verleger. Ich kenne nur den Fotoband „Berlin – Ein Wintermärchen ohne Mauer“ (darin: ein Foto vom Michelkirchplatz kurz nach der Maueröffnung, der Engel auf dem Glockenturm der Ruine der Michaelkirche fehlt darauf (er badete gerade in einer Reinigungslösung eines ostberliner Restaurators), der Plattenbau, in den wir zehn Jahre später einzogen, zeigt sich hingegen in seiner ganzen sozialistischen Schönheit, auch der grobschlächtige Wachturm und das kriegsschuttgefüllte Engelbecken). Sowie die Fotos von japanischen Schreibenden. An ihren Schreibtischen. Yoko Tawada und andere, deren Namen ich vergessen habe, nicht aber ihre Gesichter und Hände, nicht die Bücherwände im Hintergrund, nicht die Manuskriptstapel, nicht die Schreibutensilien. Das war sozusagen unsere unbefleckte Empfängnis. Zu Marios heutigen Arbeiten siehe http://www.marioa.com/
Dennoch, erklärte Mario seiner Freundin Hiroko gestern, „I feel closer to her“. Nicht weil wir, Mario und ich, etwa seelenverwandt wären. Sondern weil wir eher so etwas wie heimatverwandt sind. Besser gesagt, heimatverloren. Heimatverlorenverwandt. Mario, Sohn eines deutschen Vaters und einer italienischen Mutter, wurde wie ich in der Schweiz geboren. Er in Baden. Ich in Liestal. Zwanzig Kilometer Luftlinie voneinander entfernt. Ungefähr so weit, wie Shinjuku von Nihonbashi entfernt. Um in der Topographie Tokyos zu bleiben. Einer hässlichen Stadt, wie Mario im 38. Stockwerk eines neu errichteten, erdbebensicheren Geschäftshauses wiederholt versicherte und uns die am Horizont verschwindende Welt benannte.
Das glaube ich ihm nicht. Eine Stadt ist eine Stadt ist eine Stadt. Ein Moloch ist ein Moloch ist ein Moloch. Eine Molochheimat ist eine Molochheimat ist eine Molochheimat.

Mit Mario kam mir Tokyo weder fremd noch bedrohlich vor.
Wir fuhren nach Asakusa. Zum Tempel der Barmherzigkeitsgöttin Kannon. Beten. Den Segen der Götter erflehen. Prachtvolle Kimonos bestaunen. Mit vielen Hunderttausenden anderen. Nur Hiroko blieb zurück. Sie musste nach der Mittagspause wieder arbeiten. Wir verloren uns nicht. Und versuchten nicht unser Glück. Die Weissagungen waren schlecht, also nahmen wir sie nicht zur Kenntnis, sondern knöpften sie an das dafür vorgesehene Flechtwerk vor dem Tempel. In den Buden rund um den Tempel wurden Glücksbringer verkauft. Wir wollten uns zum kommenden Jahr des Hahns einen Segenshahn für unseren Hausfrieden kaufen. Wolfgang und ich sind beide nach dem chinesischen Kalender Hähne, ja sogar Feuerhähne. Und seit Anbeginn der Zeiten warnen die Weisen vor zwei Hähnen unter einem Dach. Wie uns erst jetzt bewusst wurde, hatten wir auch im Jahr des Hahns geheiratet. Wie leichtsinnig! Die Hausfriedenshähne waren aber ausverkauft, es gab nur noch Guteautofahrthähne und Steigendebörsenkurshähne. Also verließen wir den Sensoji mit leeren Händen und setzten uns in eine winzige Sushibar. Das Auge des Fotografen ist überall. Mario sieht mehr als wir alle zusammen. Hinter der unscheinbaren Schiebetür tauchte das braungebrannte Gesicht eines Kochs auf. Dessen Finger Reisklümpchen kneteten. Fischstückchen schnitten. Die Gäste rückten zusammen und wir gehörten plötzlich dazu. Anschließend fuhren wir nach Shinjuku. Und verloren uns auch hier nicht. Obwohl an der Station wochentags fast so viele Menschen umsteigen sollen, wie die Deutsche Bahn an einem Tag durch ganz Deutschland transportiert. Mario führte uns durch finstere und immer engere Gässchen. Als wir die Nasen am Glaskasten eines Bordells platt drückten, um die Fotos der japanischen Prostituierten (wie blass und unscheinbar!) zu begaffen, stürzte ein Japaner heraus und schrie „Japanese only“. Mario, der so friedliche Fasthelvetier, fuhr das Schlitzauge mit einem aufgeregten Wortschwall an. Lass schon, zupfte ich ihn am Ärmel, wir wollen da doch eh nicht rein. Nach zwanzig Jahren, meinte Mario, kann ich das nicht mehr hören. „Japanese only“. Das glaube ich ihm.

Kurz nach 23 Uhr brachte uns der Bus wieder in unser Zweihunderttausendseelen-Dorf zurück. Wie still es hier ist. Wir verließen den Busbahnhof dieser künstlichen Wissenschaftsstadt mitten im Reisfeld Japans, kauften im Drugstore noch Joghurts fürs Frühstück und Wollwaschmittel. Wie still es hier ist.



Copyright Mario Ambrosius, Tokyo 2005

P.S. Weitere Fotos, made by Mario A., hier: http://www.juditharlt.de/judithjapanfotos.htm.

 
Judith Arlt in Japan. -- Es hat mich in ein Land verschlagen, das sauberer ist als die Schweiz. -- Zu einer Jahreszeit, die ich lieber bei den wildlebenden Kaiserpinguinen auf dem Meereis in der Weddel See verbringen würde. -- Als begleitendes Familienmitglied eines Research Fellows der Japan Society for the Promotion of Science. -- Judith Arlt in Tsukuba Science City, Präfektur Ibaraki.

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