Japan2005
Sonntag, Februar 27, 2005
  Der letzte Tag .

Wir lassen die Zeit hinter uns. Fuji ist heute noch einmal zu sehen. Die vielen Abschiedsfotos, die wir gestern in Tokyo und heute früh aus heller Freude im 9. Stock des Ninomiya Houses geschossen haben, können leider weder auf den blog noch auf den Website geladen werden. Der Computer des Professors ruht sich bei Mario aus. Wir haben vergessen, die Daten auf meinen Laptop zu übertragen. Wir waren zu fleißig. Als Trostpflästerchen gibt es seit einigen Tagen neu auf Japan-Fotos3 ein Sonnenuntergangsbild mit Fuji von Sulo Shanmuganathan, unserer Nachbarin aus dem 6. Stock.

Wir verlassen die Zeit. Um 14 Uhr holt uns Aoki-san ab und bringt uns zum Busbahnhof. Die letzte Fahrt mit einem japanischen Überlandbus. Um 19 Uhr heben wir von Tokyo Narita ab, fliegen sechseinhalb Stunden und landen um 6:30 in Honolulu. Weiterflug nach Maui, Kahului Airport um 9:30. Um ca. 10:15 schließe ich Rhea in die Arme. Alles heute.

Wenn wir wieder in einer Zeit angekommen sind, geht es weiter im Maui-Blog. Ich kann nicht versprechen, dass ich in der Südsee so fleißig bin wie im größten Reisfeld Japans. Ich werde keine eiskalte Bibliothek zur Verfügung haben. Zur Überbrückung aller Erwartungen empfehle ich meinen Text „Ich esse auf einem gedeckten Tisch, aus schönem Porzellan und mit dem Besteck des Königs Kalakaua“ (auf www.juditharlt.de „Lina Bögli“ anklicken).

Danke für das Mit-Dabeisein und Mit-Ausharren. Mit Gedanken. Mit Worten. Oder mit schlotternden Eindrücken. Sayonara! 
Samstag, Februar 26, 2005
  Der letzte Feiertag .

Nach Mitternacht öffneten wir das letzte halbe Fläschchen Freixenet. Der Professor hat Geburtstag. Glückwünsche tropfen aus Liestal und Allschwil in unser aufgeräumtes Appartement (das Telefon funktioniert doch noch!).

Heute letzte Hektik. Letzte Verzweiflung. Letzte Sonne. Wir sehen zu, wie der Schnee auf dem Reisfeld vor dem Fenster in die Erde schmilzt. Nochmals 9 Kilogramm Papier auf dem Fahrrad zur Post gebracht. Nochmals bei Bag Land einen Kofferriemen gekauft. Nochmals einen Punkt auf die „Pointcard“ eintragen lassen. Die Verkäuferin wäre sehr unglücklich gewesen, hätte ich ihr gesagt, dass mir dieser zweite Punkt (wie bereits der erste) gar nichts mehr nützt.

Der Professor arbeitet. Er ist ein fleißiger Mensch. Ich schreibe letzte Sätze. Ich bin ein fleißiger Mensch.

Gleich fahren wir nach Tokyo. Begleiten den großen Remova-Koffer und den einen Laptop nach Asagaya und übergeben beide Mario zu getreuen Händen.

Dann gehen wir südindisch scharf essen. Dort wo kürzlich. In Laufnähe der Tokyo-Station. Und feiern. Mit Mario und Hiroko. 
Freitag, Februar 25, 2005
  Der letzte Arbeitstag .

Ich warte auf die elektrische Kofferwaage. Sie geht heute im Ninomiya House um wie ein Gespenst. Monatsende. Gepäckumschlagplatz. Draußen liegt Schnee.

Bereits um 9:15 Uhr fand die „final room inspection“ statt. Derselbe Mann, der kürzlich Insektengift hinter den Kühlschrank sprühte, kam und zählte erneut die Feuermelder. Um 9:45 Uhr fand das „final payment“ statt. Seither ist unser Telefon tot. Berlin, Liestal und Lahaina wurden vorsorglich gestern Abend noch einmal angerufen.

Der Professor fuhr anschließend nach Tokyo. Zu seinen letzten beiden wichtigen Terminen. Ich verblieb bei den Koffern. Schaltete zum letzten Mal das rosarote Bügeleisen ein.

3 R. Die Erleuchtung von gestern. Reduce. Reuse. Recycle. Der Nachhaltigkeitsspezialist ist auf einen elektronischen Newsletter von Ministerpräsident Koizumi persönlich abonniert. Mir hat er davon erst gestern erzählt.

Vorgestern Nacht, schreibt Eiko, hätte es ein ganz leichtes Erdbeben gegeben. Das dritte. Ich habe nichts davon bemerkt. Bin nach drei kalten Nächten unter dem Tisch endlich wieder mit warmen Füssen eingeschlafen.

Im Tagesspiegel online las ich, als der Professor schon im Bus nach Tokyo saß, dass auf Rügen 50.000 Kubikmeter Kreidefelsen abgebrochen und in die Ostsee gestürzt sind. Die „Wissower Klinken“ fielen Nässe und Kälte zum Opfer. Der Leiter des Nationalparks Jasmund (gottseidank kein Weltnaturerbe) wird zitiert mit dem tröstlichen Satz: „Postkarten und Bildbände müssen nun wohl neu gestaltet werden.“

Junichiro Koizumi empfing letzte Woche Wangari Maathai, die letztjährige Friedensnobelpreisträgerin und Kenias Umweltministerin. Die schwarze Dame im gelben Kleid überbrachte dem löwenmähnigen Premier ihre Begeisterung über das Umweltprogramm seiner Regierung „mottainai“. Dies meine, erklärt die provisorische Übersetzung der Rede des Herrn ins Englische, etwa so viel wie „don’t waste what is valuable“. Verschwende nicht, was wertvoll ist. Koizumi zeigt sich in seiner persönlichen Botschaft im Netz zunächst perplex darüber, dass ein Ausländer (eine Ausländerin!) in der Lage ist, den Sinn des Wortes „mottainai“ zu verstehen. Dann gibt er konkrete Tipps: 1° Celsius Temperaturunterschied auf dem Regler der Air condition (bei „kühlen“ mehr, bei „heizen“ weniger) würde Japans gesamten CO2-Ausstoss um „thousands of tons“ jährlich reduzieren. Und bei den in Japan üblichen heizbaren Toilettenbrillen könnten pro Jahr und Haushalt „18 kg“ des CO2-Ausstosses eingespart werden, wenn der Deckel nach Benützung der Toilette auf die warme Brille gelegt würde.

Japan pur. In den Instruktionen zum Auszug aus dem Ninomiya House werden wir unmissverständlich aufgefordert, Reste von Salatsaucen und Speiseöl mit Chemikalien zu „verfestigen“. Der daraus entstehende Kunststoffklotz gehöre in den Sondermüll. Oder man wickle bitte die Speiseölflasche in Zeitungspapier oder alte Kleider ein und übergebe sie dem normalen brennbaren Haushaltsmüll. Die Kreide wird den Rüganer Oststrand nun noch weißer färben. Ein undramatisches Naturereignis.

Japan pur. Im ganzen Land sind jahraus jahrein Hunderttausende wenn nicht Millionen von „Vending machines“ in Betrieb, die sowohl heiße wie auch kalte Getränke anbieten. Auf Hokkaido wird bei 20 Grad minus der Kaffee in der Dose auf der Strasse rund um die Uhr auf einer gaumenfreundlichen Trinktemperatur warmgehalten. Im Hochsommer ist halb Tokyo ein eiswürfelkalter Grünteebecher. Auch Klodeckel schließen in diesem Land nicht zugluftdicht.

Die Koizumibriefe können unentgeltlich angefordert werden über:
http://www.kantei.go.jp/foreign/m-magazine/

Die Waage ist bei mir angekommen. Die Verzweiflung auch. Ich muss das Gewicht gerecht auf zwei Koffer verteilen. Bald reisen wir getrennt. 
Donnerstag, Februar 24, 2005
  Kasuga 3 .

Neun Uhr abends. Wir packen. Sortieren unsere Sachen nach Hawaii und Nicht-Hawaii. Ein Koffer bleibt in Tokyo. Sortieren unseren Müll nach Brennbar und Nicht-Brennbar. Es schneit. Gestern der erste Frühlingswind, der in diesem Land seinen eigenen ordentlichen Namen hat: Haru ichiban no kase. Wörtlich und der Reihe nach: Frühling Nummer eins von Wind. Gestern Sand aus der saudischen Wüste. Und jetzt Schnee.

Heute Nachmittag mit Mela beim Tai Chi in Kasuga 3. Hier wird alles nummeriert. Die Winde. Die Strassen. Die Quartiere. Die Hausecken. Früher wurden sogar die Söhne mit Ordnungszahlen ins Geburtenregister eingetragen. Die Töchter blieben namen- und nummernlos.

Wir hatten uns mit den Fahrrädern an der Ecke Nishi Odori – Tsuchiura Gakuen Dori verabredet. Und fuhren nach Norden. Nach Norden. Nach Norden. Ließen Kasuga 1 rechts, Kasuga 2 links liegen. Bis wir kurz vor dem Hasunuma Fluss das Kasuga Kominkan erreichten. Das Gemeindezentrum. Eine Turnhalle. Ebenerdig. Die Sensei (Lehrerin) fragte mich als erstes, ob ich keine Schuhe dabei habe. In Strümpfen (ich trug selbst gestrickte Wollsocken) sei es zu kalt. Ich schüttelte den Kopf auf englisch. In Berlin versammeln wir uns in weißen Socken oder im Sommer mit weißen Füssen (außer Rhea, die hat braune). Hier tragen sie Schuhe. Spezielle Sportschuhe. Die sie in Taschen mitbringen. In die Halle, die man weder mit Straßenschuhen noch mit den Gemeindezentrumplastiklatschen betreten darf. Die Sportschuhe sind in einem Spezialgeschäft in Tsukuba erhältlich. Auf Bestellung. Gegen 22 Tausend Yen.

Es ist bunt. Die meisten tragen rosarote Seidenhosen und ein schwarzes oder grünes oder gelbes T-Shirt darüber. Es ist laut. Zu den Aufwärmübungen läuft chinesische Musik mit einem chinesischen Ansager. Und die alte Japanerin (Mutter der Sensei) sagt die Bewegungen japanisch an. Ich verstehe kein Wort. Alles ist mir zu schrill. Zu veräußerlicht. Halszentriert. Exakt. Es wird gezählt. Mit der Stimme. Schneidend. Und mit den Füssen. Stampfend. Der Gleichschritt. Und die Fäuste. Immer wieder geballte Fäuste. Aggressiv und militärisch. Ich sage zu Mela, hier könnte ich die Zahlen lernen. Mela erzählt, sie hätte hier „vorwärts“, „rückwärts“, „nach oben“, „nach unten“, „nach hinten“, „nach vorne“ gelernt. Es ist mir zu anstrengend. Die jungen Japanerinnen sind ehrgeizig. Ungeschminkt. Auch die älteren. Manche Übungen kommen mir vor wie chinesische Akrobatenkunststücke. Ich bin keine Schlangenfrau. Immer wieder wird der Raum, die Turnhalle, ebenerdig, mit verschiedenen Lila-Farbtönen an den Wänden, die längst blättern, wie Bäume im Herbst, nie wieder übermalt, seit das Haus steht, durchschritten. Von Nord nach Süd. Von Süd nach Nord. Die Hierarchien sind auch unter Frauen eindeutig. Die Sensei hat zwei Vorturnerinnen. Die geben den Takt an. Ichi, ni, san… Die Sensei pfeift sie zurück, wenn sie zu schnell zählen. Nicht, wenn sie zu laut zählen. Zu schnell gehen. Zu schnell denken. Ich verstehe kein Wort. Spüre nichts. Höre nur ein Gewirr von Stimmen und Tönen. Chinesische Musik. Japanisches Lachen. Weiße Zähne. Offene Gesichter. Es gibt einzuhaltende Trinkpausen. Zehn Schritte. Und wir haben die gegenüberliegende Wand erreicht. Mir rinnt der Schweiß von der Stirn und durch die Brüste.

Wir fahren die laute Nishi Odori wieder zurück. Der Wind ist eisig. Die Handschuhe sind im Koffer. Die Mützen in der Waschmaschine. Die Ohren steif. Nur der Kopf dampft und das Herz klopft. Wie unfassbar ist die Stille beim Tai Chi in Berlin. Unter dem Dach an der Akazienstrasse. Unter dem Himmel von Schöneberg. Wir trennen uns an der Ecke Tsuchiura Gakuen Dori. Mela biegt nach links ab. Nach Onozaki. Wo sie seit vier Jahren lebt. Der Vertrag ihres Mannes läuft im Mai aus. Ich fahre geradeaus weiter zum Ninomiya House. Ich bin glücklich. Ich habe nichts verpasst. Ich sehne mich zum ersten Mal nach Berlin. 
  frauenpower-foto .



Foto:

Sulo Shanmuganathan


international women's network meeting, tsukuba, ninomiya house feb 17 2005 
Mittwoch, Februar 23, 2005
  Splitter 2 .

Es fängt bei der Sprache an. Weil ich ein Schriftmensch bin. Und hört bei den Kulturgütern auf. Weil ich ein Güterzugrangierbahnhof bin.

Rolf (aus Berlin, nicht der aus der Schweiz) wollte kürzlich wissen, ob es in Japan auch „Stätten des Welterbes“ gäbe, oder ab „alles schon im Maelstrom versumpft“ sei. Seine Frage trifft meine wunde Seele. Deshalb zögere ich. Während draußen Hopper mit dem Vollmond um die Wette irrlichtert. Es ist klar, wer gewinnt. Der Tag war warm wie nie zuvor. Die Luft körnig wie über der saudischen Wüste. Die ANA-Maschine aus Peking kämpft mit Gegenwind und jagt der verlorenen Zeit nach. Rhea ist auf Maui eingetroffen. Bei ihr ist jetzt gerade noch gestern. Der japanische Kronprinz Naruhito feiert heute seinen 45. Geburtstag.

Kulturgüter gibt es en masse. Güterzugsweise karren sie in meinem Kopf über die Insel. Irgendwann heben sie im Gepäckraum einer Boeing vom Boden ab. Was nicht Welterbe ist, bleibt Nationalerbe. Das ist überall so. Aber hier gibt es Dinge wie „Quasi-Nationalparks“. Das hört sich nach einem Übersetzungsversehen an, an denen dieses Land und seine Speisekarten so reich sind. Denkt die Hausfrau. Doch weit gefehlt. Der Professor ließ sich aufklären. Die Unterscheidung „Nationalpark“ - „Quasi-Nationalpark“ liegt in deren Finanzhaushalt begründet. Der eine wird von der Zentralregierung als definiert und finanziert. Der andere wird nur von oben bestimmt, die Finanzierung verbleibt unten. Bei der Präfektur. Der Stadt. Dem Dorf. Die Hierarchie sitzt überall fest. Macht ohnmächtig wie ein zu eng geschnürtes Korsett. Was auf unserem geistigen Bildschirm als abgewertet blinkt, erfährt in der japanischen Seele volle Aufwertung. Prangt stolz auf Landkarten und Yokoso-Prospekten.

Der Mond hat den Himmel und die ganze Stadt eingenommen. Seinen Schwellpunkt erreicht er in Tsukuba morgen früh um 5 Uhr. Danach wird bald wieder die Sonne aufgehen. Welterbestätten habe ich viele gesehen. Weltkulturerbe. Oder Welterbe. Naturerbe. Oder Weltnaturerbe. Naturkulturwelterbe. Weltnaturkulturerbe. Weiß der Teufel. Hiroshima beispielsweise ist Weltkulturerbe. Nicht die Stadt, sondern das Friedensdenkmal, „Hiroshima Peace Memorial (Genbaku Dome)“. Das, was die Atombombe hat stehen lassen. Das Gerippe eines Mammontempels. Die Wut kocht wieder in mir hoch, wenn ich in der Kurzbegründung der Unesco lese (siehe http://whc.unesco.org/sites/775.htm): “Not only is it a stark and powerful symbol of the most destructive force ever created by humankind; it also expresses the hope for world peace and the ultimate elimination of all nuclear weapons.” Nicht Frieden triumphiert. Weder in Hiroshima. Noch auf der Welt. Noch in der Kultur. Sondern die A-Bombe. Die Abkürzung, welche sowohl die Unesco wie die Stadtväter gerne benützen, verharmlost das Ungeheuer Atombombe. Und die Aufnahme in die Weltkulturerbeliste verleiht ihr ihre zweite Rechtfertigung. James H. Foard schreibt in seinem Artikl „Text, Place and Memory in Hiroshima“, den mir der Professor freundlicherweise in Kopie überlassen hat: „… the story must be told, not only to designate the place, but also, so that the bomb does not triumph. Hence the place of Hiroshima must at once retain and reject, give and prevent access to its story. The bomb cannot be memorialized, what are memorialized in the Park are the bomb’s opposites: its victimes, through many specific stones, and peace, with the peace bell and flame.“ Was für eine bequeme amerikanische (Arizona!) Argumentation! Die Bombe darf nicht triumphieren, man darf ihr kein Denkmal setzen, also triumphiert der (körperlose, durchsichtige) Frieden und dient gleichzeitig als (ebenso körperloses, durchsichtiges, engelsgleiches, entmaterialisiertes) Denkmal für ihre Opfer. Die Friedensglocke. Die Friedensflamme. Wie erhebend. Und rührselig. Das Ding, das sich am höchsten in die Luft aufschwingt im Friedenspark ist die weiße japanische Fahne mit dem knallroten Punkt in der Mitte. Und das Museum betet allen technokratischen Mist zu dieser A-Bombe so naturgetreu und rosenkranzhaft herunter, dass mir armer Frau der Kopf schwirrt, aber bald jeder Halbwüchsige nach Hause geht und sie pfeifend nachbaut.

Es ist dunkel geworden. Der Professor ist in Narita gelandet. Ich muss mich beeilen. Vollmondnächte schärfen die Gedanken. Wie Samuraischwerter. Das Wort „peace“ – „Frieden“ wird in Hiroshima überfrachtet. Wie an keinem anderen Fleck der Welt. Es müsste ehrlicherweise „eliminiert“ werden. Und damit Herz gezeigt. Bis die Atomwaffen auf der Welt eliminiert sind. Die Fahrtrichtung unserer Güterzüge war schlecht gewählt. Das konnte aber keiner vorhersehen. Dass bereits die Abfolge der Ereignisse sich so niederschmetternd auswirken würde. Nach Huis ten Bosch (weder Welt- noch Naturerbe), und vor Hiroshima die Insel Miyajima. Mit Weltkulturerbe: Itsukushima Shinto-Schrein. Wir besichtigten ihn, nachdem uns der fette Mönch durch den Daiganji-Tempel geführt und uns einen Blick in seinen privaten Zen-Garten erlaubt hatte, und ich war für kein Welterbe mehr empfänglich. Das bei Flut auf dem Wasser schwimmt wie ein Containerschiff. Es wurde im Herbst von einem Taifun beschädigt. Die Fotos von der Macht der Elemente waren beeindruckender als die neuen Holzstege, über welche man uns Sonntagsbesucher im Einbahnverkehr geleitete. Nach Hiroshima und vor Nara (ganz Nara ist ein einziges Weltkulturgut) die Himeji-Burg. Weltkulturerbe. Enttäuschend aus der Nähe. Und bitter auf der Haut. Das Wetter verschlechterte sich. Der Himmel zog sich zu. Der Wind wurde eisig. Von der Burg ist nur der Wehrturm übrig geblieben. Wir mussten unsere Schuhe auf dem Rundgang in einer Plastiktüte mittragen. Obwohl wir an der Stelle die Burg verließen, an der wir sie betreten hatten. Die erste Schikane im japanischen Museumwesen. Schuhe darf man immer stehen lassen. In diesem Land klaut keiner Schuhe. Auf losen Plastiklatschen und mit baumelnden Winterschuhen in der Hand hätte ich mehrmals die steilen Treppen hinunter stürzen und mir alle Knochen bis hin zum Genick brechen können. Nach Himeji und vor Kyoto (die halbe Stadt und die ganze Umgebung ein einziges riesiges Weltkulturgutstück) die Eiszeit in Nara. Kälte raubt den letzten Sinn für Unescoeinträge und Postkartenansichten. Als der Professor wohlwollend bemerkte „das ist nun wirklich alt“ (es war, glaub’ ich der Horyuji Tempel), platzte mir der Kragen. Ich bin eine Frau und kein Experimentalphysiker. Ich habe meine hormonell bedingten Stimmungsschwankungen. Überall auf der Welt. Auch in der egalisierten Gesellschaft Japans.

Alt oder nicht alt. Welterbe oder nicht Welterbe. Fake oder nicht fake. Holland oder Japan. Kyoto oder nicht Kyoto. A-Bombe oder B-Bombe. Man rangiert hier Geschichte und Traditionen wie Chemiegüter am Bahnhof Olten. Containerweise. In Schiffsbäuchen. Oder Huckepack. Kein Mensch weiß, mit wie vielen hochexplosiven Stoffen angereichert. In den japanischen Häusern (ich war gestern in einem) wird die ganze Tradition in das Tatamizimmer gesteckt. Das ist einfach zu handhaben. Schiebetür zu. Schiebetür auf. Hausaltar. Ohinasama (zum Mädchentag am 3.3.). Sonst was zum Jungentag (irgendwann später, ich habe das Datum absichtlich aus meinem Kopf verbannt, da er gleichzeitig ein Nationalfeiertag ist – was der Mädchentag nicht ist). Weihnachtsbaum. Hochzeitsfoto. In der japanischen Außenwelt wird die ganze Tradition in Tempelanlagen verwahrt. Abseits vom täglichen Umsteige-Trott. Unberührt von den Shinkansenstelzen. Nikko – auch Weltkulturerbe, auch abzuhaken auf meiner inneren „ichhabjadochwasgesehen“-Beruhigungsliste. Und der Zedernwald –Weltkulturguthauch, allerdings nicht der bei Nikko, den wir in der Abenddämmerung betrachtet, befahren, begangen, befühlt und berochen haben, sondern der auf Yakushima, einer kleinen Insel südlich von Kyushu. Oder andersherum – auch Himmelsrichtungen unterliegen Stimmungsschwankungen und sind relativ – das nördliche Ende des Ryukyu-Archipels.

Die Tempel auf der Erdoberfläche sind wie die Kanji-Zeichen in der Sprache. Den Japanern selbst fremd und unverständlich geworden. Aber ich kann nicht einmal die Untertitel in Hiragana lesen. In Nara hing ein handgeschriebener Zettel an einem Holzpfosten. “I’m sorry, my english is not good to explain buddhist temple.” Ohne Unterschrift. Der einzige herzliche Satz im ganzen Land.

 
Dienstag, Februar 22, 2005
  Splitter .

Vormittag.

Trotz Wollsocken konnte ich nicht einschlafen. Mir ging durch den Kopf, dass wahrscheinlich nur ich die Welt hier in einzelne Bestandteile aufgesplittert wahrnehme. Dass sie für die Menschen, die hier geboren wurden, normal ist. Ihnen im Gegenteil sogar das Gefühl gibt, Teil einer ungespaltenen Ganzheit zu sein. Und etwas Ganzes, Einheitliches, Normales schafft immer Geborgenheit. Nicht nur auf einer Insel. Die Menschen hier leben in einer rundum harmonischen Welt. Umspült von den Wassern der Erde. Nur Reisende und Heimatlose sehen Brüche. Risse. Klaffen. Hören das Rumoren der Tiefe. Empfinden mangelnde Wärme als Kälte. Verstehen nicht, warum der letzte Bus von Ushiku bereits um 20:10 Uhr losfährt.

Es fängt bei der Sprache an. Weil ich ein Schriftmensch bin. Weil ich die Wörter besser behalten kann, wenn ich sie sehe. Als wenn ich sie höre. Weil sie mich weniger anstrengen. Wenn ich sie sehe. Als wenn ich sie höre. Die japanische Sprache zerfällt in drei graphische Bestandteile. Für mich. Weil ich sie – die Sprache – so sehe. Und weil ich erkenne, wie wenig die Zeichen miteinander zu tun haben. Auch wenn sie in einem einzigen Satz vereint, in einem einzigen Wort eingeschlossen auftreten. Und meinetwegen aus einer gemeinsamen Wurzel stammen mögen. Trotzdem sind sie sich heute fremd. Stehen sich feindlich gegenüber. Beargwöhnen sich.

Warum schnitten die japanischen Schüler bei den Aufnahmeprüfungen für die Universitäten in diesem Jahr bei der Sprachprüfung besonders schlecht ab? Weil sie keine Kanji mehr erkennen können. Weil sie die chinesischen Schriftzeichen nur noch in ihrer Kompliziertheit wahrnehmen. Nicht aber in ihrem eigentlichen Sinn. Mich stören nicht die komplizierten Strichfolgen und Strichgebirge. Mich stört, dass auch der einfachste Satz im Japanischen keine Ruhe in einem einheitlichen Schriftbild findet.

Letzten Sommer in Berlin erfuhr ich von Aiga-san, dass ein normaler Satz wie „Ich fahre nach Paris“ im Japanischen geschrieben aus allen drei graphischen Varianten besteht. Und dies zwingend. Es gibt keine Freiheit. Nur das Fernsehen und die Museen kennen phonetische Untertitel für Kanji-Zeichen und dürfen sie anwenden. Es gibt keine Kreativität. Keine Sprachspielereien. Die Schrift ist unbeweglich. Das Subjektzeichen (Ich) verlangt ein Kanji-Zeichen, das Verb und die grammatische Korrelation (fahren nach) will – in diesem Fall – fünf Hiragana-Silben und die Endstation „Paris“ wird als Fremdwort bestraft mit Katakana-Silben.

Ich muss los. Mela wartet im Bus nach Hitashi-no-Ushiku.

Abend.

Mit dem letzten Bus zurückgekommen. Bin müde. Wir haben den ganzen Nachmittag englisch gesprochen. Und Fotoalben durchblättert. Wie glücklich manche Menschen auf der Reise und nicht in der Heimat aussehen. Die Unruhe in der Verschriftlichung setzt mir zu. Und ihre gleichzeitige Leichenstarre. Es gibt keine Möglichkeit, daraus auszubrechen. Die Sprache zu erlernen. Mit Spaß und Freude. Die Schweiz als Gefängnis. Geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Denn ich habe Grindelwald gesehen. Gletscher, Schnee und Fahnen. Japan als Gefängnis. Die Kanji-Welt als Gefängnis. Die Hiragana-Welt als Gefängnis. Die Katakana-Welt als Gefängnis. Gesprochen hört sich die Sprache so einheitlich und regelmäßig intoniert an wie Maschinengewehrgeknatter.

Dürrenmatts Havel-Rede. Mein Gott, wie lange ist das her! (Gott antwortet sofort: Friedrich Dürrenmatt. Die Schweiz - ein Gefängnis. Rede auf Vaclav Havel zur Verleihung des Gottlieb-Duttweilers-Preises am 22. November 1990). Er muss kurz darauf gestorben sein (Gott ist zur Stelle: am 14.12.1990). „Jeder Gefangene beweist, indem er sein eigener Wärter ist, seine Freiheit.“

Die Silbenschriften wachen über die Menschen auf dieser Insel. Eifersüchtig hindern sie sie an geistigen Fehltritten.

 
Montag, Februar 21, 2005
  Haarspaltereien .

Gestern war ich mit Mario in Shinjuku in der größten internationalen Buchhandlung des Landes. Nachdem der Flughafenbus mit Professor und Koffer an Bord von der Tokyo Station losgefahren war. Natürlich hätte ich mich besser vorbereiten können. Müssen. Viel besser. Auf zwei Monate Japan.

Rhea fliegt heute von LA über Honolulu nach Kahului. Der Mond ist schon wieder fast kugelrund und steht bereits am frühen Abend am Himmel. Ich konnte letzte Nacht nicht einschlafen. Obwohl kurz vor dem Lichterlöschen eine email aus dem Peace Hotel Peking einging. Die Füße wollten trotzdem nicht warm werden. Draußen dräute der Mond. Durch die Nachtregenwolkenwand.

In der größten internationalen Buchhandlung sah ich Bücher liegen, die ich natürlich alle hätte lesen können. Müssen. Und noch viele mehr. Während zwei Monaten in Japan. Habe ich nichts gelesen. Ich blätterte in dem einen. Und anderen. Ein Ratgeber für ausländische Frauen. Tipps für alle Lebenslagen. Wo kaufe ich Schuhe, die passen. Röcke, die lang genug sind. Blusen, Oberteile mit ausreichend Brustraum. BHs, Dessous usw. Das Kapitel „Haarpflege“ flog auf. Auch ich muss dringend etwas gegen meinen Altersansatz am Hinterkopf unternehmen. Bevor ich mit Rhea auf den Vulkan steige. Der Ratgeber bietet eine Checkliste für den Frisörsbesuch an. Ich habe nicht die Absicht, zum Frisör zu gehen. Brauche nur das richtige Tönungsshampoo. Den richtigen Farbton. Ohne Hennarot. Und ohne Ossilila. Frau muss sich versichern, schreibt die Checkliste im Ratgeber vor, dass der Frisör/die Frisöse gut englisch spricht. Frau muss nachfragen, wo der Frisör/die Frisöse seine/ihre Ausbildung gemacht hat. Frau muss darauf beharren, eine Statistik vorgelegt zu bekommen, wie viele ausländische Kundinnen der Frisör/die Frisöse durchschnittlich pro Jahr bediene. Ich lege das vier Zentimeter dicke Paperback zurück. Ich schlucke leer. Papier ist geduldig. Die Luft trocken. Die Welt eingebildet. Was würde meine Berliner Frisöse sagen, wenn eine großmäulige Amerikanerin ankäme und ihren Meisterbrief sehen wollte?

Auf einer der vielen Rolltreppen frage ich Mario, warum er in diesem Land lebe. Er zuckt mit den Schultern. Lächelt nachsichtig. Er spreche die Sprache. Habe seine Freiräume. Geschaffen. Dabei erdrücken einen hier die Komplexe beider Seiten. Denke ich. Der Nachhaltigkeitsspezialist, der in dem Moment in Narita vom japanischen Boden abhob, in dem ich einen japanischen Frisörsbesuch weit von mir wies, hatte mir mit gewohnt wissenschaftlicher Präzision dargelegt, warum dieses Land genau so langweilig und nervtötend sei wie Amerika. Natürlich mit gezielt objektivem Vokabular. Da ich nicht seine Studentin bin, brauche ich seine Worte hier nicht zu wiederholen. Auch bin ich keine Schweizer Milchkuh. Futtergras wiederkäuende Eiweißproduzentin. Kürzlich tauchte im Internet die Schlagzeile auf, dass im Nordwestschweizer Kanton Jura das Salz ausgegangen sei. Es herrsche Streusalzmangel. Straßenstreusalznot. Auch im Oberbaselbiet schneite es fast so heftig wie in Niigata.

Die Frage bleibt, bei aller Bescheidenheit, was denn in diesem Land unsere Kreativität am Leben hält. Mario fotografiert seit zwanzig Jahren in diesem Land. Ich tippe seit zwei Monaten täglich mit der Routine einer Chefsekretärin. Ließe man mich dies nicht tun, wäre ich längst erstickt. An der Sauberkeit. An der Einordnung. Am Gleichklang. Fiele plötzlich der Strom im Ninomiya House aus, müsste ich mich nach spätestens vier Stunden, für so lange saugt sich mein Laptop mit Elektrizität voll, vom Balkon stürzen. Gestern ist mir plötzlich bewusst geworden, dass ich seit zwei Monaten in keine einzige Hundescheiße getreten bin. Nicht weil ich etwa unentwegt das Glück hatte, daneben zu treten. Sondern weil in diesem Land Hunde nicht auf die Strasse scheißen. Erleuchtungen kommen immer ungefragt.

Ich kaufte in der Nacht, auf dem Heimweg, da auch sonntags Drugs bis Mitternacht geöffnet hat, eine Packung Haartönung. Ich wählte nach den Bildchen für die Taubstummen. Ich wollte keine Farbschmiere, keine Pinselei. Ich bin nicht Malerin. Sondern Handwerkerin. Ich wollte eine Tube, deren Inhalt ich in eine Lösungsflasche drücken kann. Wie ich das von Ostberlin gewohnt bin. Ich wählte nach Zeitangaben. Wie lange das Emulsionsgemisch auf dem Kopf zu verbleiben hat. Zahlen kann ich lesen. Zehn Minuten kamen mir so verdächtig vor wie das Vollwaschmittel, das ich nur bis 30° benutzen soll. Ich überprüfte den Inhalt der Packung. Ich habe mir hier angewöhnt, sämtliche Verpackungen zu öffnen. Was der Verstand nicht greift, wird oft den Fingerspitzen klar. Was ich dann erblickte, überraschte mich trotz der späten Stunde: In der Packung lag ein kleiner Kamm. Er lässt sich auf die Emulsionsflasche aufschrauben. Die Zähne des Kamms haben Löcher. Die Plastikflasche ist nachgiebig. Unter Druck von Handfläche und Fingerbeeren tropft die Tönung durch die Löcher des Kamms in den Haarboden. Ich kämme die Haare und verteile die Farbe natürlich vorteilhaft. Mein Gott, warum hat man so etwas Simples noch nicht anderswo erfunden? Ein durchlöcherter Plastikkamm mit Schraubgewinde zur Haarsträhnenspalterei.

 
Judith Arlt in Japan. -- Es hat mich in ein Land verschlagen, das sauberer ist als die Schweiz. -- Zu einer Jahreszeit, die ich lieber bei den wildlebenden Kaiserpinguinen auf dem Meereis in der Weddel See verbringen würde. -- Als begleitendes Familienmitglied eines Research Fellows der Japan Society for the Promotion of Science. -- Judith Arlt in Tsukuba Science City, Präfektur Ibaraki.

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